Viel erzählt hat er ja nicht – ich kann mich sowieso an nichts erinnern –, aber Mutter auch nicht. Irgendwas war immer nicht richtig: ich noch zu jung, Mama nicht Mann genug oder hätte selbst dabei sein müssen, um es zu verstehen, und so versandete alles nach zwei unbefriedigenden Sätzen. „Im Osten… Zehen abgefroren, Hunger…“ und „ihr wisst ja gar nicht was Hunger ist…“ Aber jetzt konnte ich selber nachschauen. Trotzdem musste ich vorher eine Rauchen.
Nachdem ich Ortsnamen zusammen mit „Wehrmacht“, „Opfer“ und „Zivilbevölkerung“ gegoogelt hatte war mir schlecht. Das man vielleicht einmal nichts mitbekommen hat, würde ich wahrscheinlich noch akzeptieren, aber so oft? Und dann angeblich nie darüber gesprochen haben, wenn man sich in Birkenwäldchen eingräbt und eisige Nächte überstehen muss? Da konnten sie es sich nicht leisten sich die Ohren zuzuhalten, wenn sie den Feind beim sich anschleichen ertappen wollten. Oder dass das im Krieg normal gewesen wäre – es war doch ihr erster! Oder dass man die Einheimischen dort eben nicht als Menschen wahrgenommen hätte. Ja als was denn sonst? Giraffen oder was? Das hieße ja, man hätte die Nazipropaganda eben doch verinnerlicht, das Rassengeschwafel, die Nürnberger Gesetze. Und wie das gehen soll, kann ich nicht begreifen. Das geht mir nicht in den Kopf.
Das ist, als würde man dir erzählen: übrigens, die Hexe hat in Wahrheit Hänsel und Gretel aufgegessen, und eigentlich war das deine Oma. Du weißt schon, die bei der du immer so gerne gegessen hast? Als Trost, weil die Nachbarskinder weg waren? Und frag nie, was in den Klößen war …
Ob das so ähnlich ist, wie mit den Diensthandys, die sich magisch von selbst löschen? Genau wie Neujahresvorsätze. Mal abwarten, ob Daniel Lukas auch wirklich anruft.
Wie bringe ich das jetzt Mutter bei?
© Jens Prausnitz 2023