06. November 2019 – Nachtschicht

Na gut, so auswendig dann doch wieder nicht. Ich halte ihn gerade in Händen, nachdem ich ihn aus dem Schuhkarton hervor geholt habe. Wann habe ich das zuletzt getan? Muss schon länger her sein…
„Ich sterbe vor Sorge um Daniel und würde euch so gerne wiedersehen. Ihr hattet mit allem Recht. Jetzt sitze ich im Schulgefängnis, genau wie ihr. Es ist schrecklich, wenn man nicht schon erwachsen ist.“ Den Teil hatte ich vergessen. Wie auch was in meinem Antwortbrief gestanden haben mag, also neben den offensichtlichen Sachen, wie meiner Telefonnummer, die richtige Adresse, Nachname und all das. Der Teufel muss mich geritten haben. Ein bisschen tat er das, weil ich unter Zeitdruck stand, denn die Post würde bald zu machen. Es war ja Samstag.
Mein Herz raste und ich schlug vor, dass sie auch weiterhin an mich schrieb, damit die Korrespondenz nicht dem alten Speck in die Hände fiel, oder bei Lukas verloren ging. So weit, so logisch. Ich schrieb wie sehr wir uns Sorgen um sie gemacht hätten, dass sie uns fehlte, und dann noch ein paar Sätze, an die ich mich eben nicht erinnern kann. Wahrscheinlich habe ich sie für sehr subtil und clever formuliert gehalten. Das waren sie aber bestimmt nicht. Und manchmal bin ich mir nicht sicher, ob Nadja mir den einen oder anderen davon nicht als Zitat an den Kopf schmeißt, ohne dass ich es merke. Sie lächelt manchmal so wissend, verspielt, nachdem sie was gesagt hat, und ich begreife nicht immer gleich, was sie gemeint hat. Oder halt gar nicht. Oder erst nachdem mir Stunden, Tage oder Wochen später ein Licht aufgeht. Jetzt lege ich mich aber hin, die Schicht war lang und ich bin hundemüde.

Geträumt habe ich, dass ich tatsächlich was an die Tafel geschrieben habe, aber als ich einen Schritt zurück machte, um es zu lesen, hat jemand das Licht aus gemacht. Ich habe mich zwar zum Schalter vorgetastet, aber der hat dann nicht funktioniert, und über meinen Ärger machte ich die Augen auf und war wach. Ein Omelett später auch satt.

Was ich Nadine noch geschrieben zu haben meine ist, dass wir einen Plan für Daniel und sie hätten, was natürlich nicht der Wahrheit entsprach, aber deutlich besser klang als: Wir sind zu doof. Mit Ruhm hatten wir uns wirklich nicht bekleckert, und wenn sie heraus fand, was für Nieten wir waren, würde sie womöglich lieber allein das Weite suchen, und wir sie niemals wiederfinden. Ich versicherte ihr, das alles gut werden, und wir sie da rausholen würden, dabei rettete sie uns gerade den Arsch. Endlich hatten wir etwas, das wir Daniel sagen konnten. Endlich hatten wir wenigstens die Idee von einem Plan, einen Lichtblick, einen Hauch Hoffnung, auf den man bauen konnte.
Ob Nadine meinen Antwortbrief weg geschmissen hat, weiß ich nicht. Ich gehe zwar davon aus, weil nach Hause hätte sie den ja damals schlecht mitnehmen können, ohne aufzufliegen. Das war zu riskant. Vielleicht hat sie ihn bei jemandem zwischengelagert und dann dort vergessen? Ging ja danach alles ziemlich schnell. Aber wenn doch… dann wären sie ständig mit ihnen umgezogen und Daniel sicher irgendwann darüber gestolpert – das wüsste ich. Nein, die hat sie ganz bestimmt nicht aufgehoben, und ich werd den Teufel tun und sie danach fragen.
Jedenfalls schaffte ich es an dem Samstag noch zur Post, gerade eben so. Erst auf dem Rückweg fiel mir dann ein, dass sie noch andere Briefe erwähnt hatte. Ich lief also noch einmal zurück und wollte Fragen, ob da vielleicht noch unzustellbare Post an mich herumliegen könnte, aber dann war schon zu. Wie lange heben die solche Briefe wohl auf, ehe sie sie vernichten? Ich betete jedenfalls, dass es wenigstens noch nicht am Montag wäre. Vielleicht hoben sie die gerade auch länger auf, weil der neue Postbote, Herr Winkler noch nicht mit allen Namen auf seiner Runde vertraut war? Ich hoffte es.

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