Es ist mir ja ein bisschen unheimlich, wie ungestört ich diese Woche hier zum Schreiben komme. Vielleicht ist das wieder nur die Ruhe vor dem Sturm? Aber ich glaube eher, dass es daran liegt, dass Heide bei jedem Alarm schneller auf den Beinen ist, als ich. Wahrscheinlich habe ich einmal zu oft „Nur diesen Satz noch fertig!“ gesagt, und jetzt ist sie schon aus der Tür, ohne ein „Bleib sitzen, ich mach schon.“ zu entgegnen. Ich fühl mich schon schlecht deswegen, als würde ich sie ausnutzen. Heute kam ich auch erst eine Idee später, und sie hat mich nicht mal deswegen angesprochen. Sie ist einfach nur einfühlsamer, als andere. Es ist fast so, als nähme sie mich eher als zusätzlichen Patienten wahr, denn als Kollegen. Und ich bin ihr dankbar dafür, dass sie mir die Zeit gibt und den Rücken frei hält. Ich würde jederzeit das Gleiche für sie tun, wenn sie nicht der ausgeglichenste Mensch wäre, den ich kenne. Ich werde mir etwas einfallen lassen, um mich angemessen dafür zu bedanken. Ganz bestimmt.
Es war am Morgen des 12. Septembers gewesen, das mein Trägerraketen-Selbst in tausend Stücke zerschellte. Eine ausgeglühte Trägerrakete, die zur Erde zurück stürzte, und dort aufschlug. So hat es sich angefühlt, meine Welt zersprang, und ich versuche sie immer noch wieder zusammen zu setzen, aber an diesem Punkt ist der Big Bang, hier explodierte mein Universum.
War das wirklich so? Seit Tagen grübele ich schon darüber nach, und ich weiß längst nicht mehr ob oder wo mir meine Erinnerung einen Streich spielt. Alles dreht sich im Kreis, und je öfter ich es umkreise, desto vertrauter fühlt es sich an, die rauhen Stellen schleifen sich ab, alles wird glatt und glaubwürdig, wie jede andere Perspektive auch, wenn man sie nur oft genug gehört hat. Man kann das Private nicht einfach nachschlagen, wenn man will, da müsste man schon permanent Tagebuch geführt, und von Anfang an Schreiben gekonnt haben. Und ich Esel hab genau vorher wieder damit aufgehört, also vor 1989, als ich gerade erst gelernt hatte mit Worten umzugehen. Aber ein Muskel, den man nicht regelmäßig trainiert, verkümmert wieder. Ich hatte ja vorgehabt stattdessen Songtexte zu schreiben, nur… nun ja.
Klar, ich kann auch in Zeitungen von damals gucken, oder Bücher vor Historikern lesen, Biographien und so, aber da findet man ja nur Daten und Ereignisse, die nicht das widerspiegeln, was man selbst empfunden hat. Da fehlt die eigene Gänsehaut, selbst wenn die kein Zeichen für Wahrheit darstellt, so doch für die Wichtigkeit des Moments. Es steht eine emotionale Wahrheit gegen eine anders zusammengereimte, und so blenden wir immer einen Teil unserer Wahrnehmungen aus, andernfalls würde unser Bewusstsein ja gefühlsduselig darin ersaufen. Unser Gehirn sortiert vor, immer. Filtert. Macht Fehler. Schert sich einen Dreck drum, entschuldigt sich nie. Es kann uns aus jeder Situation rausreden, so lange wir der einzige Zuhörer sind. Da werden unsere Erinnerungen so lange umsortiert, bis die Gegenwart wieder passt, uns keine andere Wahl blieb, tut mir leid, isebenso. Hauptsache wir bleiben der Held unserer eigenen Geschichte. Das ist Selbstschutz, oft aus Verzweiflung heraus, weil es nur falsche Entscheidungen gibt, weil man jemand anderem mit der Wahrheit nur weh tun würde. Was man auch tut, am Ende leidet immer irgendwer, und ich mit ihnen.