Es war nicht so, dass ich Nächte nicht schon vorher gemocht hatte. Anders als Daniel, der dann die meiste Ruhe vor seinen Eltern hatte und deshalb so gerne durchmachte. Bei mir war es diese eine Nacht, diese eine halbe Stunde machte den ganzen Unterschied, als ich mit Nadine zwischen den Zelten saß, mit dem Mond über uns. Sie hatte sich an mich gelehnt, weil die Septembernächte doch schon merklich kühler waren, obwohl der Asphalt noch lange in die Nacht seine gespeicherte Wärme abstrahlte. Der Mond reflektierte das Sonnenlicht, der Asphalt die Sonnenwärme. Ihre grünen Augen leuchteten von innen, ihr Gesicht war ein wenig gerötet, und sie roch wie ein Erdbeerfeld in der Mittagssonne. Diese geballten Eindrücke verflüssigten mein gebrochenes Herz, so dass sich die Bruchstücke wieder berührten, und ich seinen Schlag wieder spürte.
In ihrer Abwesenheit war sie mir zu meiner Schwester geworden, zwischen den Worten ihrer Mutter hindurch, zu meinem
Seelenzwilling.
Jeden Tag sehne ich mich seitdem nach dem Moment, in dem die Sonne untergeht, das die Nacht hereinbricht, und damit die Chance auf die Wiederholung einer Begegnung, wie diese eine, neben der alle anderen bis zum heutigen Tag verblassen. Also bis auf eine vielleicht. Na gut, einige, aber im Vergleich ist mir immer diese am liebsten. Dabei ist nicht mehr passiert, als dass sie sich an mich gelehnt hat. Vielleicht war ihr nach dem Bad im See doch kalt geworden, aber die Gründe waren mir ehrlich gesagt egal. So merkte sie hoffentlich nicht, wie heiß es in mir brodelte. Was ich damals nicht wusste – nicht wissen konnte -, war, dass ich bei dieser Gelegenheit noch jede Chance bei ihr gehabt hätte. Vielleicht hat ja deswegen diese Nacht den größten Stellenwert. Geredet haben wir auch. Also nach langem Schweigen.
„Du redest nicht viel, was?“ Waren damals ihre ersten Worte. Natürlich. Mein Kopf war leer, da war dieser große schwarze Ballon, der alles an den Rand quetschte, und meine Antwort brauchte auch viel zu lange, um sich natürlich anzufühlen.
„Ich bin nicht gut mit Worten.“
„Das glaube ich dir nicht.“
Ich zuckte mit der freien Schulter.
„Als ich heute in der Schlange vor deinem Tisch stand, hab ich zugehört, wie du mit uns gesprochen hast.“
„Das war doch immer das Gleiche“, meinte ich. „Dazu braucht man keine Ausbildung.“
„Auch wie man mit Kindern umgeht? Da war ein müdes Kind an der Schulter eines Vaters, und du hast so leise gesprochen, dass ich dich nicht mal gehört habe.“
„Dann hast du mich ja gar nicht gehört?“
„Nein, aber ich konnte am Gesicht des Vaters ablesen, dass es das Richtige war. Das drumherum erzählt manchmal mehr, als die Worte selbst. Wie du sie sprichst ist genauso wichtig. Und ehrlicher.“
„Bei dir habe ich gestottert.“
„Und wie!“, kicherte sie.Ich lächelte und wurde wahrscheinlich auch rot. Ob es wohl dunkel genug war, dass sie es nicht merkte? Bestimmt wusste sie es auch so. Wir schwiegen wieder, und es war wundervoll.
„Siehst du, das meine ich“, brach Nadine nach einer Weile erneut die Stille.
„Was?“
„Dass du nicht viel redest. Aber du strahlst etwas aus. Im nicht sichtbaren Spektrum.“
„Im nicht sichtbaren Spektrum?“
„Vom Licht. Ultraviolett, Infrarot, sowas.“
„Wie eine Biene? Oder was weiß ich – ein Hund?“