Es Lukas beibringen zu müssen, dass auch ich gehen würde, war schrecklich. Als würde ich ihn verraten. Noch saßen wir gemeinsam in der Schule, ertrugen Goldhammer und verbrachten unsere freie Zeit miteinander, beinahe wie früher. Aber dann fehlte ich immer öfter in der Schule, weil ich mit Mama durch die Lande fuhr. Sie nutzte ihre Urlaubstage, und mir schrieb sie Entschuldigungen. Lukas wusste noch nicht Bescheid, aber ahnte längst, dass etwas im Busch sein musste. Nur fragte ihn niemand, und er mich auch nicht. Lukas wartete geduldig auf den Moment, in dem ich es von mir aus ansprach. Dafür war ich ihm sehr dankbar, denn es machte mir die Entscheidung leichter, ich fühlte mich wohler damit. In Vilshofen war ich nur noch ein Gespenst, schon fast so unsichtbar wie Daniel.
Wenn ich überhaupt mal da war, dann fuhren wir nahezu jeden Tag mit Monika aus Vilshofen raus. Ich bin mir aber sicher, dass es er das inzwischen auch ohne mich machte, und die einschlägigen Discotheken abklapperte, in denen Hard-Rock und Heavy Metal lief. Normale Discotheken gab es in Niederbayern zwar auch, aber dort lief fast ausschließlich die Musik aus den Charts, die man auch im Radio hören konnte. Das hatten wir uns zwar auch mal angesehen, aber gefühlt war es dort immer zu hell und der Boden klebte zu wenig. Letzteres war ein Feature, auf das man beim Headbangen ungern verzichtete, gerade wenn das dritte Bier so langsam den Gleichgewichtssinn zu beeinträchtigen begann.
Als unser Lieblingsziel kristallisierte sich zunehmend diese eine heraus: Dietersburg. Also eigentlich das Blamage, aber wir kannten keine Discothek bei ihrem richtigen Namen, sondern nur nach dem Ort in dem sie lagen: zum Beispiel Büchlberg, Jägerwirth oder eben Dietersburg. Oft war die betreffende Discothek nicht mehr als ein Wirtshaus, vor dem einen Abend in der Woche oder im Monat mehr Autos als üblich parkten. Wenn sie konnten. Denn nicht selten standen sie vom Ortskern bis vor das Ortsschild wieder heraus, Stoßstange an Stoßstange. Von überall her kamen sie angefahren, Autos waren die Signale, die es zu lesen galt. Nicht deren Nummernschilder, sondern allein ihre Anzahl ließ keinen anderen Schluss zu als: Dorfdisco. Auch wenn man zum ersten Mal dort war, fand man sie zuverlässig am Ende der Autoschlange, der man nur zu folgen brauchte, bis auf den letzten Metern der Lärm selbst die Richtung wies.
Dietersburg hatte sich nicht verändert, seit wir zuletzt mit Lukas’ Bruder dort gewesen waren, aber die Musik und das Publikum sehr wohl: Es lief weniger Punk und Hardcore, sondern mehr Seattle. Weniger Fugazi und NoMeansNo, dafür eben Mudhoney, TAD, Alice in Chains, Soundgarden, Mother Love Bone, der ganze Scheiß. So hatten wir auch Nirvana kennen gelernt, und waren auf ihrem Konzert gelandet, als sie hier um die Ecke spielten. Das war der Sound, auf den Lukas gewartet hatte, und ihm zuliebe war ich dabei, denn Rush gab es da leider nie zu hören. Aber immerhin weder Proll- noch Opa-Rock, damit konnte ich leben.