23. Dezember 2019 – Frühschicht

Bin nach drei Tagen in Folge Frühschicht völlig gerädert, obwohl ich heute früher gehen konnte, damit ich den Zug noch erwische. Iris ist für mich eingesprungen, mit dicker Backe, weil sie direkt vom Zahnarzt kam. Das regelmäßig früh aufstehen hat sicher geholfen, aber wenn alles derart streßig wird, dann möchte man dem frühen Vogel nur noch einen Wurm eng um den Hals binden. Hab außerdem bis in die Nacht noch frische Kekse nach dem Rezept vom PJler gebacken [NOCH NICHT FINAL AUSGEWÄHLT: Apfel-Marzipan-Plätzchen ODER vegane Mandelecken ODER… ], als Geschenk für Lukas und Sandra.
Hab mehrfach nachgeguckt, ob ich wirklich am richtigen Tag im richtigen Zug sitze, weil es nur noch dunkel ist. Ist Sonnenfinsternis von der ich nichts wusste? Oder ein Vulkanausbruch? Ist der Qualm aus Australien inzwischen über Aachen? Was hab ich sonst noch verpasst? Was mit jeder Haltestelle immer mehr aus den Nähten zu platzen drohte, war mein Abteil. Hätte gerne mal nachgesehen, ob der Rest des Zuges leer ist. Die Leute schleppen so viel Zeug und Klamotten mit sich rum, dass ich die ganze Reise bereits jetzt bereue.
Andererseits bin ich bei der Übergabe Schwester Anita begegnet. Sie hat mich gefragt, ob mir nicht mal wieder nach Nachtschicht zumute sei, sie würde sich freuen. Ich glaub die ist überzuckert oder hat Visionen unter Zimteinfluss. Hab ihr frohe Weihnachten und einen guten Rutsch gewünscht, und als Frühschoppen was von dem Rügener Sanddorn-Schnaps ausgeschenkt, weil der kaum die Weihnachtsfeier heute Abend überleben dürfte, und da kann sie ja schlecht.
Wurde höchste Zeit, dass ich aus dem Laden raus komme, aber vorher gab’s nochmal Aufregung um ein Kind mit Nasenbluten. Hatte aber nur die Kappe von einem Buntstift in der Nase und sich beim Versuch den wieder zu verschließen die Oberlippe grün angemalt. In Panik sind alle Eltern farbenblind. Oder es liegt an der verdammten Dunkelheit!
War eingenickt. Sind schon hinter Nürnberg, und es trübt sich alles schon wieder ein. Muss ich in Plattling eigentlich umsteigen? Früher stand der Zug dort immer recht lange, wenn man aus München zurück kamen, weil auf Anschlusszüge gewartet wurde oder so. Heute bleibt der immer mal wieder gerne irgendwo auf der Strecke stehen. Meine Vermutung ist, dass der Lokomotivführer die nächste Weicheneinstellung nicht sehen kann und ein bisschen kurzsichtig ist. Deswegen hält er an, steigt aus, und guckt zur Sicherheit nach. Das gibt mir immerhin die Zeit zu Schreiben, und ich schreibe nur, um mich von den Gerüchen und der Enge abzulenken. Für den Rest gebe ich mir jetzt aber die Kassette von Heßler, weil ich auch aus dem Zugfenster gucken will, ob ich noch was wiedererkennen kann.
PS: Achtzehn der siebenunddreißig Leute in meinem Sechspersonen-Abteil haben noch nie einen Walkman gesehen, geschweige denn eine Audio-Kassette. Zehn sind wohl davon überzeugt, dass ich den aus einem Museum geklaut haben muss, und dem Rest ist eh die Sicht versperrt.

© Jens Prausnitz 2022

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