23.05.20

Es treibt Clara und Dennis wieder auf die Straße. Sie und ihre Gruppe planen neue Demonstrationen. Ich kann es ja verstehen, aber ich sterbe vor Sorge. Nicht etwa deshalb, weil sie alles ändern wollen, sondern weil man sie im Augenblick mit den anderen demonstrierenden Idioten in den gleichen Topf schmeißen würde. Na ja, und dann war da noch dieses tödliche Virus.
„Es kann doch nicht immer so weiter gehen, Smörre!“ Dennis ballt die Fäuste, auch wenn ich es nicht sehen kann. Immer wenn er Zeuge von Ungerechtigkeit wird, macht er das. Schon als Kleinkind hat er das gemacht.
„Wird es aber, so lange wir Teil davon sind“, seufze ich.
Dennis haut auf den Tisch und steht auf, die Webkamera zeigt ein leeres Zimmer, die Blende reguliert nach und macht es dunkler, die Schärfentiefe nimmt zu, auch wenn ich das nicht wahrnehme. Dann taucht Clara im Bild auf, die böse Blicke am Rechner vorbei wirft, als ginge dort jemand wütend auf und ab.
„Er meint es nicht so“, sagt sie entschuldigend zu mir.
„Doch, und er hat ja Recht. Ich war selber genauso“, sage ich mit einem müden Lächeln, „und bin es immer noch. Nur habe ich in den letzten Monaten einiges begriffen, was mir vorher nie richtig bewusst war. Wir können nur kleine Schritte machen, uns ein bisschen anpassen.“
„Also im Grunde wie ein Virus?“
„Was?“ Ich stutze. „Ja. Das ist … ja, wie eine Mutation, die auch nicht mehr ist als ein Test, der sich erst noch beweisen muss. Jede noch so gute Idee muss sich ja auch erst in der Praxis beweisen. Bei der Spaltung von Atomen hat ja auch keiner zuerst an eine Bombe gedacht.“
„Bist du dir da sicher?“
„War vielleicht kein gutes Beispiel, aber verstehst du, was ich meine?“
„Ich glaub schon.“
„Eine Revolution will aber angeblich bei Null anfangen, alles besser machen, dabei tragen wir aber das was vorher war, in uns, und replizieren es, wie ein Virus, bewusst oder unbewusst. Das Böse am Kapitalismus ist, dass wir damit aufgewachsen sind. Es ist nie ein Neuanfang, sondern höchstens eine Mutation. Das ist so, als hätten wir alle mit dem Rauchen angefangen, von klein auf. Man kann sich das Rauchen zwar abgewöhnen, aber man bleibt sein Leben lang ein Raucher. Die Erinnerung daran, die Verhaltensweisen drum herum, all das schreibt sich in unser Gehirn ein.“
„Aber du hast es doch geschafft aufzuhören“, protestierte Clara. „Und wir sind stolz auf dich.“

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