08. November 2019 – Nachtschicht

Unruhig geschlafen. Keine Träume. Nur Wut und Erschöpfung. Kein Wunder nach der Nacht. Ich geh jetzt trotzdem eine auf dem Balkon rauchen. Die Sucht will es so.

Je länger ich in der Kinderklinik arbeite, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass meistens gar nicht die Kinder krank sind, sondern eigentlich deren Eltern in Behandlung gehören. Oder anders gesagt: die Kinder sind häufig Symptom, selten die Ursache. Das gilt leider auch für Dinge wie Knochenbrüche, bei denen Kinder unglücklich gestürzt sind. Angeblich. Man sieht es den Kindern an, ob sie selber vom Rad gefallen sind, oder ob ihr Fahrrad währenddessen in der Garage stand. Oder wer bringt bitte einem sechs Monate altem Kind das Fahrradfahren bei?

Und wenn es mal keine Frakturen sind, dann Flecken in allen Regenbogenfarben, und immer begleitet von diesen ängstlichen Augen, die man nie wieder vergisst. Man telefoniert mit dem Jugendamt, dem Kinderschutzbund, und in nahezu allen Fällen wissen die bereits, von wem die Rede ist, und einem sind darüber hinaus die Hände gebunden. Bis heute habe ich immer noch den Impuls spontan Kinder aus diesen Verhältnissen heraus adoptieren zu wollen, und stattdessen muss man sie doch wieder in ihre Hölle von einem Zuhause zurückkehren lassen. Das ist einfach nicht fair.

Aber es sind ja nicht allein die gewalttätigen Eltern, die gab es immer. Verändert haben sich gerade die vormals normalen Eltern, kann das sein? Wir wurden uns noch mehr oder weniger selbst überlassen. Davon kann keine Rede mehr sein, die Kleinen haben heute schon vollere Terminkalender, als ihre eigenen Erziehungsberechtigten. Die stopfen ihre Kinder mit Medikamenten voll, schleifen sie durch 16 Stunden Tage, und haben darin keine Zeit für eine Umarmung oder fünf Minuten Zärtlichkeit. Unermüdlich schleppen die einem dann hier noch Haus- und Fleißaufgaben ans Krankenbett, wo Ruhe nötig wäre. Die rauszuschmeißen, wenn die Besuchszeit abgelaufen ist, gehört zu meinen größten Freuden.
Wenn man dann mal einen weniger anstrengenden Tag hat, und sich ein bisschen Zeit nehmen konnte für die kleinen Patienten, dann verstecken sich in denen oft wunderbare, verschüchterte kleine Menschen, mit bescheidenen Wünschen und Träumen. Hier ein Hund, dort eine Katze, aber Papa ist allergisch und Mama erträgt den Geruch nicht. Berufswunsch ist gar nicht Anwalt oder Tennisprofi, sondern später einmal Straßenbahnschaffner zu werden.

Es war Nadine, die den rettenden Einfall hatte. Sie hatte mich wie verabredet angerufen, und ich schmolz dahin, obwohl mir nicht entging, wie traurig ihre Stimme klang.
„Hallo Johann, notier dir bitte die Nummer und ruf zurück, falls wir zu früh getrennt werden sollten. Es ist dringend.“
Aber das Geld reichte. Das war gut so, denn die Nummer, die ich mit der falschen Hand notierte war nicht sehr leserlich geraten, wie ich hinter feststellte.
„Was meinst du?“, fragte sie dann.
„Wozu?“
„Hast du mir nicht zugehört?“ Nadine schnaubte.
„Du hast was von weglaufen gesagt.“

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