So gut habe ich noch nie nach einer Nachschicht geschlafen. Endlich! Am Lesen lag’s nicht, sondern weil ich es doch nochmal mit ASMR probiert habe, also am nächsten Morgen zu Hause, es hat mich prompt wieder genug abgelenkt um mich von meiner Müdigkeit überwältigen zu lassen. Und jetzt fühle ich mich so ausgeschlafen, wie ewig nicht. Die ersten drei Tage nach einer Nachtschicht ist man ja meistens ziemlich gerädert, aber stattdessen habe ich so gut geschlafen und war so voller Energie, dass ich glatt das Schreiben vergessen habe. Dabei war ich noch nicht mal mit dem ersten Tag vom Flüchtlingslager fertig, und so lange stand es nicht einmal. Heute vor 30 Jahren war es schon wieder leer gestanden, nach nicht einmal einer Woche Betrieb. Auf Fotos von oben sah das Lager dabei für mich immer wie der Umriss der DDR aus, und einmal gesehen kriegt man das Bild nicht mehr aus dem Kopf.
Die letzten zwei Tage habe ich mich endlich um die Dinge gekümmert, die ich so lange vor mir hergeschoben hab, dass ich meine Faulheit nicht mehr mit meiner Sommergrippe begründen kann. Die Wäsche zum Beispiel. Bin also gestern zum Waschsalon getigert, Maschine vollstopfen, kein Kleingeld für den Waschmittelautomat haben, dann gegenüber Zigaretten und eine Dose Cola gekauft, dann endlich rauchend draußen gestanden. Drinnen war es mir zu stickig, obwohl die Tür offen stand. Warum hinterlässt Cola aus der Dose nochmal dieses blecherne Gefühl im Mund und auf den Zähnen?
Die frische Wäsche wurde dann gleich im Treppenhaus vom Geruch der im alten Fett anbrennenden Buletten von Herrn Wirsing empfangen. Vom Sprint in den zweiten Stock war ich dann gleich aus der Puste, und hängte alles schwer nach Luft japsend auf dem Balkon auf. Dort wollte ich dann zur Belohnung reflexartig rauchen, bremste mich aber im letzten Moment, und qualmte drei Minuten später am Küchenfenster, nachdem ich die Fensterbank umständlich freigeräumt hatte. Von dort aus hörte ich dann, wie die verspätete Müllabfuhr auf der anderen Seite unter dem Balkon ihrer Tätigkeit nachkam. Irgendwas ist doch immer.
Dann habe ich gestern „Verlorene Paradiese“ fertig gelesen, und die Idee, dass die Erde selbst ja nichts anderes ist, als ein Generationenraumschiff, geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Wir fliegen halt statt geradeaus im Kreis, und müssen mit dem Konflikt zwischen Wissenschaft und Religion, Zweifel und Glauben auch immer wieder von vorne anfangen. Los werden wir ihn nicht, höchstens ändert sich die Form. Wir reden vom Klimawandel, und andere freuen sich halt über das schöne Wetter. Alles eine Frage der Wahrnehmung, und wie viel Wissen man verträgt.
So toll es geschrieben ist, ich musste immer wieder eine halbe Seite zurück blättern, weil meine Gedanken immer wieder nach Vilshofen abdrifteten. Das man gleichzeitig eine Sache lesen kann, ohne sie zu behalten, weil man an etwas anderes denkt, hat zwar etwas faszinierendes, stört aber mächtig bei beidem. Und ich dachte, ich hätte Vilshofen längst hinter mir gelassen, meine Reise ging nicht von der Erde nach Shindychew, sondern nur von Vilshofen nach Aachen. Trotzdem liegen auch hier Welten dazwischen, ein großes, mir unbekanntes Nichts. Bin ich überhaupt schon angekommen? Daran, dass die Erde hier gerne mal bebt, habe ich mich inzwischen gewöhnt, aber wie soll man so zur Ruhe kommen? Oder bin ich es, der die Beben hier auslöst, weil ich keine Wurzeln schlage? Ist es am Ende gar nicht Vilshofen, das an mir hängt, sondern bin ich hier derjenige, der nicht loslassen kann? Und wenn es so ist, zu welcher Gruppe gehöre ich dann? Zu den Gläubigen oder den ewigen Zweiflern?