13. September 2019 – Nachtschicht

Clara hat nicht erzählt, wie sie diesen Mario kennengelernt hat, aber ich ahne es. Wenn es nur annähernd so war, wie ich Nadine kennengelernt habe, dann … au weia. Wie ich sie das erste Mal gesehen hab, habe ich ja schon beschrieben: Aus der Ferne beim Haare waschen. Nach meiner Raucherpause bin ich dann wieder ins Zelt zur Registratur, half den Flüchtlingen bei ihren ersten Schritten im Lager, und hörte ihnen zu.

Als ich dann über Papieren saß, legten sich plötzlich ihre Hände auf meine, und ich wusste, dass es ihre sind, bevor ich hoch sah. Das kann ich vorher draußen eigentlich nicht gesehen haben, ich war zu weit entfernt gestanden, aber ich wusste es. Sie hatte auch was gefragt, und weil ich nicht gleich reagiert habe, hat sie es wiederholt: ob ich nachschauen könne, ob inzwischen ihr Papa eingetroffen sei, und ob ich ihr dabei helfen könne ihn zu finden, falls man ihn in eins der anderen Auffanglager geschickt habe. Das tat ich dann auch, doch zuerst kriegte ich kein Wort raus, schluckte, nickte, blinzelte, nahm meine Brille ab, putzte sie, stach mir beim wieder aufsetzen fast ein Auge aus, zog die Augenbrauen hoch, hob das Kinn, befreite sanft eine meiner Hände, sah den ausgefüllten Zettel an, den sie mir auf den Tisch geknallt haben musste, noch bevor ihre Hände auf meine gelangt waren, und stammelte einen Silbensalat darüber wie Dressing. Jetzt starrte ich den Zettel an, als sähe ich so einen zum ersten Mal.

Ich hab kein fotografisches Gedächtnis, aber diesen Zettel sehe ich so klar und deutlich vor mir, wie eine Fotografie. Ihre Schrift sah ich, die Buchstaben, ausschweifend, die Linien übertretend, eine Grenzgängerin durch und durch. Ich blinzelte, atmete aus und sah zu ihr auf, jedes blinzeln fokussierte auf eine andere Sommersprosse. Immer blicke ich zu ihr auf, mein Leben lang. Wie schön sie war. Dann stammelte ich etwas, von dem ich hoffte, es enthielte die folgenden Informationen: „Mach dir keine Sorgen. Ich finde ihn, und dann sag ich dir umgehend Bescheid. Zelt 23, Rothe.“ Ich bezweifle stark, dass es so klar über meine Lippen kam, aber wie durch ein Wunder hat sie mich wohl trotzdem verstanden, denn ihre Hand drückte meine, und dann schenkte sie mir ein von den wunderbarsten Grübchen, die ich je gesehen habe umrahmtes Lächeln, wie es schon zuvor Daniel verzaubert hatte – nur wusste ich das da noch nicht. Sie stand schneller auf, als ihr meine Augen folgen konnten, an ihr blieb einfach kein Blick haften, alles perlte an ihn ab wie Regen von einem Kürbisblatt. ‚Nadine‘, flüsterte ich. Der ganze Moment hat sich in meine Seele geschliffen: die Holzbank, auf der ich saß, die Zeltplane, die Luftfeuchtigkeit, alles. Alles Leben und meine Aufmerksamkeit hatte sie aus dem Zelt heraus gesaugt, einfach mitgenommen, und ich wollte nur noch wieder in ihrer Nähe sein. Wie zum Kuckuck hatte sie das gemacht?

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