16. November 2019

Hab heute früh angefangen ein paar Sachen auszusortieren und in einen Karton gepackt. Versuchsweise. Weil einzelne Stücke habe ich dann doch wieder heraus genommen und zurück ins Regal gestellt, nur um es mir dann eine Viertelstunde später noch einmal anders zu überlegen. Nach zwei Stunden war er trotzdem endlich voll, und dann hatte ich keine Lust mehr. In den Regalen und auf den Abstellflächen war kein nennenswerter Unterschied zu erkennen, dafür stand jetzt ein voller Karton störend mitten im Zimmer. Ich verließ die Wohnung.

Ehe ich mich versah, war ich auf dem Weg in die Klinik. Macht der Gewohnheit? Ich wollte schon umkehren, als mir einfiel, dass ich doch nach ein paar meiner kleinen Patienten schauen könnte, von denen ich mich gerne noch verabschieden wollte. Morgen wäre ja meine nächste Nachschicht gewesen, dann wieder mit Schwester Heide. In knapp zwei Wochen wäre keins der Kinder mehr da, dass ich mit aufgenommen habe oder kennen würde. Das ist dann immer wie ein kleiner Neuanfang. Mir ist auch so, als hätte ich mir das von jemandem abgeschaut, und das hat mir so sehr gefallen, dass ich es übernommen hab. Gute 10 Jahre mache ich das jetzt so. Oder seit die Zwillinge auf der Welt sind? Ich bringe es nicht mehr zusammen. Aber damit es ein Neuanfang wird, muss man das bisherige Kapitel schließen. Ob das auch in anderen Berufen so ist? Ich steh ja nicht am Fließband. Bei Lehrern vielleicht, nur langsamer.

Bei unseren Lehrern war es mit Ausnahme von Talmüller nicht lange Thema, dass Daniel nicht zurück kam. Manche nahmen es mehr oder weniger gleichgültig zur Kenntnis, verloren einen Satz dazu und hielten sich einfach weiter an ihren Lehrplan. Das unser bester Freund weg war, kam darin nicht vor, also kümmerten sie sich auch nicht weiter darum.
Goldhammer sah sich natürlich in allem bestätigt. Lukas hatte gestanden, Daniel Reißaus genommen, und ich war in seinen Augen ja sowieso der erste Versager gewesen. Im Unterricht sitzen zu müssen war eine Qual gewesen.
Mitschüler versuchten uns zu trösten, indem sie sagten, Daniel hätte es geschafft. Als wär er ausgebrochen und säße jetzt irgendwo bei Softdrinks mit Schirmchen unter Kokosnüssen in der Südsee. Seine Abwesenheit schien manchen beinahe Hoffnung zu machen, oder schlimmer noch, die Kraft ihr eigenen Los länger zu ertragen, weil sie annahmen, Daniel sei tot.
Am härtesten von uns allen traf es aber Talmüller. Weil wir wussten immerhin, dass er Vilshofen quicklebendig verlassen hatte. Sein Blick blieb so oft an dem leeren Stuhl hängen, wie er den Faden im eigenen Unterricht verlor. So hat der alte Speck nicht einmal aus der Wäsche geguckt.
Talmüller vermisste jemanden, suchte Daniel in der Klasse, als ob er nur mit jemandem aus Spaß den Platz getauscht hätte, oder nur unter seiner Bank etwas aufhob.
Speck suchte währenddessen nach einem Schuldigen, einem Mitwisser.
Talmüller überlegte sich, was er vielleicht hätte mehr tun oder sagen können.
Speck war sich keiner Schuld bewusst, ließ sich nichts anmerken. Also bis er Lukas grün und blau schlug, aber das schien man ihm eher zu verzeihen, als Lukas zu bemitleiden. Es war wirklich grotesk, dass ausgerechnet der Geprügelte kaum Mitleid abbekam, weil der Arme Vater doch so sehr litt. Da konnte es schon mal passieren, dass man die Selbstbeherrschung verlor. Irgendwas würde Lukas schon verheimlichen, die heckten in dem Alter doch alle was aus, und wahrscheinlich steckt es mit dem mißratenen Sohn sogar unter einer Decke. Dem tat es bestimmt ganz gut, wenn er mal windelweich geschlagen wurde, hat uns ja auch nicht geschadet.

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