Gewitter ohne Regen ist merkwürdig. Wenn es direkt über einem ist, es um einen herum blitzt und Bum macht, da braucht man mit dem Zählen gar nicht erst anzufangen. Aber wenn es so ist, als ob eine Glühbirne durchbrennt, ohne ein Geräusch zu machen, dann … lege ich automatisch los: Einundzwanzig. Um einen herum. Zweiundzwanzig. Um Ulm herum, bum bum bum. Dreiundzwanzig. Paradoxerweise wie in Zeitlupe, wie in einem Albtraum. Vierundzwanzig. Frühmorgens, man ist noch nicht wach, draußen ist es schon hell, findet doch nicht zurück in den Schlaf. Sechsundzwanzig. Keine Autos sind zu hören, keine Vögel, nichts. Man liegt da, in Erwartung der göttlichen Wut, die sich über einem entlädt. Was haben wir falsch gemacht? Wie eine allerletzte Warnung schlägt es ein, ein Knall der endlos nachgrollt. Zweiunddreißig also. Die Welt hält den Atem an. Vier Kilometer zu spät.
Eigentlich ging es doch seit 2015 nahtlos so weiter, außer das den Helfern noch weniger Gehör geschenkt wird. 2020 geht es nahtlos da weiter. Die Länder zerfallen in offene Arme und ausgelebte Barbarei. Überall.
Keiner macht mehr Selfies mit der Kanzlerin, auch die Helfer nicht. Vor allem damit man nicht selbst zur Zielscheibe wird. Heute würde auch niemand mehr jemandem aus der eigenen Stadt helfen. Es werden ja nicht allein die Flüchtlinge im Stich gelassen, sondern unsere eigenen Leute auch. Das wird gerne vergessen, gerade von denen, die am lautesten schreien. Was ist mit Alleinerziehenden? Chronisch Kranken? Alten in Pflegeheimen? Oder mit uns, die wir uns um sie kümmern, wir Pfleger und Schwestern? Schon vor der Pandemie gingen wir auf dem Zahnfleisch, und es ist kein Ende in Sicht. Nicht einmal vor den eigenen Kindern wird halt gemacht, dabei machen sie doch genau was von ihnen erwartet wirtd: sie hören auf evidenzbasierte Wissenschaft und gehen in deren Namen auf die Straße. Aber über Flüchtlinge und Asylanten lässt sich fantastisch herziehen, wenn die die Sprache, in der das geschieht nicht verstehen. Da fallen bei uns alle Hemmungen.
Früher war es eine Art Volkssport bei Fernsehsendungen zu spenden, da wurde an Gefühle appelliert, schonungslos auf die Tränendrüse gedrückt. Es wurden hungernde Menschen vor ihren Lehmhütten gezeigt, während wir über dem Abendessen saßen. Über Nacht brachten wir Millionenbeträge zusammen, dann die Hilfe hin, und hatten es selbst schon bis zum Sendeschluss vergessen. War auch leichter zu ertragen, als sie vor Hunger noch dort blieben, wo sie waren, und nicht in den Fußgängerzonen bettelten, oder in Unterkünften eingepfercht werden, so unsichtbar wie möglich. Warum nicht mitten in der Stadt, wie damals in Vilshofen? Vielleicht würden ausbildende Betriebe dort Lehrlinge finden, für die Deutsche gar nicht mehr aufstehen.
Oder was ist mit den ganzen Betrieben, die jetzt pleite gehen, weil der globale Markt durch die Pandemie stottert? Einige wird der Staat auffangen, alle anderen werden sich Reiche unter den Nagel reißen, für einen Bruchteil dessen, was sie eigentlich wert wären. Das erinnert verdächtig an die Treuhand, und wieder guckt da niemand so genau hin, was da gerade alles den Besitzer wechselt.
Dass seit der Wende das Soziale kaputt gespart wurde, dann Balkankrise, Agenda 2010, Riester und Pipapo – alles vergessen, wie Geld in anonymen Umschlägen. Ehrenwort. Was bleibt sind „jüdische Vermächtnisse“, der ewige Hattrick aus Antisemitismus, Rassismus und Sexismus. Oder wie es auch gerne genannt wird: „Die gute alte Zeit.“