07. November 2019 – Nachtschicht

Auf dem Weg zur Arbeit habe ich noch bei Dr. Heßler vorbei geguckt, um ihn nochmal daran zu erinnern, dass er mir ein Tape aufnimmt, bevor ich in den Urlaub fahre. Er war nicht gerade begeistert, weil ihm dann nicht mehr viel Zeit blieb, und so funktionierte er privat eben nicht.
Es ist mir unbegreiflich, wie man das derart trennen kann. In der Klinik ist er eine Ausgeburt der Zuverlässigkeit, aber privat ist er in einer komplett anderen Welt. Darauf angesprochen meine er nur: „Eben deshalb.“
„Das verstehe ich nicht.“
„Die beiden Welten bedingen einander. Die zeitliche Ordnung Zuhause lässt mich das Chaos in der Arbeit bewältigen.“
„Du meinst andersrum.“
„Nein, ganz und gar nicht. Ohne meine private Aufgeräumtheit und Ruhe könnte ich die Unvorhersehbarkeit und den beruflichen Streß nicht aushalten.“
„Was?“
„Es ist wie mit den Zwillingsbrüdern, von denen einer mit einer Rakete mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs ist, während der andere Zuhause bleibt und nach der Rückkehr seines Bruders im Vergleich zu ihm stärker gealtert ist. Ich bin beide in einem.“
„Dann ist die Klinik deine Rakete, und Zuhause wirst du nur älter.“
„Nein, genau andersrum“, seufzte Heßler. „Hier bin ich viel mehr in Bewegung, als in der Klinik. Hier passieren doch die aufregenden Dinge, die mich jung halten. Das ist meine Rakete.“
„Ich versteh nur noch Weltraumbahnhof.“
„Hier, in meiner Wohnung ist mein Erleben, mit mir als einzigem Beobachter eins, draußen in der Klinik aber nicht. Dort sind viele Menschen, also unterschiedlichste Beobachter, die alles ein klein wenig anders wahrnehmen, als ich. So weit klar?“
Ich nickte vorsichtig, um das Kartenhaus meines Verständnisses nicht versehentlich zu berühren.
„ Aus dem was ich hier tue und denke speist sich meine Disziplin und Ruhe, die beiden Hälften miteinander verknüpft.“ Jetzt lächelte er selig. „Zeitdilatation. Lies da mal was drüber.“
„Klingt ein bisschen nach Brüdern, die auf Sanduhren starren.“ „Mehr was mit Zügen und Bahngleisen. Es kommt darauf an von wo aus du etwas betrachtest.“
„Also ich guck lieber selbst aus dem Zugfenster, als wenn ein Zug an mir vorbei fährt.“ Und schon musste ich wieder an Daniel denken. Dr. Heßler sah mich an. „Nimm es mir nicht übel, aber ich glaube einen so in sich ruhenden Beobachter wie dich habe ich selten gesehen.“
„Das könnte ich auch von dir behaupten.“
„Für einen relativen Beobachter tickt die Zeit nur bei ihm selber richtig.“
„Ich muss jetzt zur Arbeit. Denkst du bitte an die Kassette? Oder lass die von deinem Zwillingsbruder aufnehmen, während du in der Klinik bist.“
„Besorg du dir mal deinen eigenen Zwilling“, feixte er.

Habe versucht mir was zur Zeitdilatation durch zu lesen, und gleich wieder aufgegeben. Schade um die Zeit für einen Dilletanten wie mich, das ist nichts für mal nebenher in der Nachtschicht. Da bringe ich lieber weiter Licht in meine eigene Vergangenheit, als damit durch einen Zug zu laufen, den andere aus den Augen verlieren.

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