10. November 2019 – Nachtschicht

Oh Mann. Es ist doch eigentlich alles gut gelaufen, mit den Träumen. Heute Nacht jedenfalls nicht. Ganz und gar nicht. Was für ein beschissenes Gefühl. Daniel hat versucht mich umzubringen! Nicht gleich, erst war er normal, aber dann nicht mehr er selbst. Weshalb war Daniel denn so sauer auf mich? Weil ich den Zwillingen von Lukas erzählt habe? Oder weil ich zu ihm und nicht zu ihnen fahren würde? Es fühlte sich so echt an, als er mich würgte, mir wird immer noch ganz anders.
Vielleicht kriege ich ja diesen falschen Daniel aus dem Kopf, wenn ich mich schnell an den richtigen erinnere. An den, der es wie geplant nach Gießen geschafft hat. Er kam dort am späten Nachmittag, beziehungsweise frühen Abend an. Es war schon gegen Ende Oktober, von daher war es sowieso gefühlt immer zu früh dunkel.
Nadine wartete schon am Bahnhof auf ihn. Sie hatte es nicht länger am vereinbarten Treffpunkt im Theaterpark ausgehalten. Nicht alleine. Außerdem hatte sie sich ausgerechnet, mit welchen Zügen er ankommen könnte, und eigentlich kam nur dieser in Frage, und so war es auch. So fielen sie sich nach anfänglichem Schreck über ihre abgeschnittenen Haare (denn dass sich auch Nadine fast zeitgleich mit ihm die Haare abgeschnitten hatte, wussten wir da noch nicht) in die Arme und blieben so stehen. Vermutlich lange, und obwohl am Bahnsteig, in aller Öffentlichkeit, werden sich beide zum ersten Mal unbeobachtet gefühlt haben. Die einzigen Blicke, die sie trafen, waren schamhaft, manche vielleicht neidisch, aber für die meisten wahrscheinlich einfach nur ein schöner, willkommener Anblick.
Da es laut Nadine zu spät für die Busse aus Prag war, mussten sie sich ein Quartier für die Nacht besorgen. Die Botschaft war nach der Ausreise derer, die dort Genscher’s berühmter Ansage auf dem Balkon gelauscht hatten, ja gleich wieder neu überrannt worden. Vielleicht kamen die Züge und Busse auch noch von woanders her, es wurde alles immer chaotischer, und die Berichterstattung verlagerte sich ein bisschen zu den Protesten in der DDR selbst.
Daniel investierte das knappe Geld für ein Hotel in Bahnhofsnähe, dem Bares wichtiger war als Ausweise, und dort erzählten sie sich alles, was in der Zwischenzeit passiert war. Außerdem haben sie… nun ja, es sei ihre Hochzeitsnacht gewesen, und sogar die Ringe steckten sie sich vorher wieder an die Finger. Ohne Sex hätte ihre Geschichte am nächsten Tag auch nicht gestimmt. Als Ehepaar sollte man sich schon mal nackt gesehen haben, wenn man gemeinsam flüchtet. Angeblich haben sie sich auch noch auf den nächsten Tag vorbereitet, aber so richtig glauben tue ich das nicht.
Ich hatte Daniel noch im letzten Moment den Tipp mitgegeben, dass sie angeben sollten durch die Donau geschwommen zu sein. Solche Flüchtlinge hatten wir auch in Vilshofen gehabt, und deren Papiere waren unleserlich, unvollständig oder ganz verloren gegangen.
„Und was soll ich dann jetzt mit den Rucksäcken? Das hätte dir mal früher einfallen können!“
„Oh, äh…“ Mir stieg das Blut zu Kopf. „Euch wird sicher was einfallen, Hauptsache ihr kommt ohne an.“
„Na großartig… wird ja immer besser, der Plan.“
Die Lösung war dann doch recht einfach, denn sie ließen die Rucksäcke am nächsten Morgen einfach in einem Schließfach am Bahnhof, der Schlüssel war ja wieder leicht zu verstecken. Aber kaum, dass sie den Bahnhof verließen, wurde Nadine unruhig, als hätten die Rucksäcke ihnen Schutz geboten, so wie zuvor ihre langen Haare.
„Wo müssen wir jetzt hin?“

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