09. November 2019 – Nachtschicht

Mama hat mich aus dem Bett geklingelt. Immerhin erst mittags. Sie stand schon unten an der Tür. „Wollen wir Stolpersteine putzen gehen?“
Auch wenn ich keine Lust darauf hatte, ließ ich mich doch von ihr mitschleifen. Sie hatte sogar einen gekauften Mitnehmkaffee für mich dabei, mit dessen Duft sie mich auf die Straße lockte, für sich selbst nur ihre klassische Thermoskanne. Clever.
„Wo wollen wir hin?“
„Moltkestraße.“
„Und die ist wo?“
„In der Nähe vom Bahnhof.“
„So weit? Mama, bitte…“
„Reiß dich zusammen, na komm.“
Ich hatte keine Kraft zum Diskutieren, und der Spaziergang hat mir gut getan. Bis wir ankamen, war ich wach. Uns muss jemand zuvor gekommen sein, denn Elly hatte schon jemand besucht.
„Heilanstalt“, las ich vor, und Mama bestätigte meine Annahme, dass es ein Fall von Euthanasie war. Fünf Jahre alt. Wir schrubbten und polierten den Stein, auch wenn man in diesem Fall keinen Unterschied zu vorher sah. Motorisch mag es nicht mehr als eine Geste gewesen sein, aber innerlich pauste ich die Oberflächenstruktur des Gedenksteins ab. Das gab dem Grauen die nötige Haptik und berührte mich.
„Schon ein erstaunlicher Zufall, dass die Mauer genau an dem Datum fallen musste“, sagte ich.
„Na ja, von einem Verleser sind die Pogrome 1938 sicher nicht ausgelöst worden.“
„Auch wieder wahr. Der Schalk hatte auch eher einen im Tee, als sich selbst im Nacken sitzen.“
„Was?“
„Dummer Scherz“, winkte ich ab. „Hast du noch was von deinem Kaffee übrig?“
„Ich dachte, der sei dir zu bitter?“
„Ist er ja auch, aber das ist erstens dem Anlass angemessen, und zweitens ist er heiß.“
Mutter schenkte mir ein und wir hockten noch ein wenig nebem dem Stein, bis meine Knie protestierten. Dann trennten sich unsere Wege, und ich ging nochmal kurz nach Hause, den Kopf voller Gedanken.
Das Schicksal der Deutschen, 2x geronnen in ein Datum, das symbolträchtiger nicht sein könnte. Als am 09. November die Mauer fiel, hat man das Rumpeln über die Grenzen Deutschland hinaus gehört. Genauso wie die brennenden Synagogen 38. Wenn das keine Aufforderung ist, beides zusammen zu denken, dann weiß ich es auch nicht. Ist das nicht was mir Heßler mit den Brüdern erzählen wollte? Dass die Zeit stehen bleibt, wenn man selbst dabei war? Es ist, als wären die Scherben durch die Zeit gereist und mischten sich heute unter den Sand, der vom einen Kolben in den anderen rieselt, und von 89 wieder zurück nach 38. Alles, was ich dazu tun muss ist, die Uhr umzudrehen. Das macht mich dann wohl zum Beobachter.
Wenn es schon Gedenktage braucht, dann bitte solche, die genau den Rechten [!sic] die Feierlaune verdirbt, mit Demut statt Freibier. Hier gehört die Deutsche Einheit hin, nicht in den Oktober.
Apropos doppeltes Datum, das war ja mit dem 11. September genauso: Die Grenzöffnung 1989, und der Anschlag auf das Word Trade Center 2001. Wer weiß wie viele solcher Paarungen es noch gibt, wenn man erst einmal anfängt danach zu suchen.

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