08.02.20

Schwester Anita nahm mich heute nach der Übergabe an die Seite, was ich ihr vor den ganzen Kolleginnen schlecht abschlagen konnte. Also machte ich gute Miene zum bösen Spiel und wir gingen ins Behandlungszimmer.
„Was ist denn jetzt wieder? Hast du noch eine Enthüllung aus meinem Tagebuch, die du mir unter die Nase reiben willst?“, fragte ich gereizt.
Sie schüttelte den Kopf. „Hast du das mitbekommen, mit dem neuen Rettungssanitäter? Vielleicht ist das ja alles nur ein dummer Zufall, aber ich wollte, dass du darauf vorbereitet bist, weil …“ Schwester Anita verstummte und sah mich an. „Du hast ihn schon gesehen.“ Ich nickte. Sie flüsterte: „Und das ist wirklich der Anton Rothe, den du …“ Ich nickte noch heftiger um sie zum Schweigen zu bringen. Vergeblich. „Das ist ja … und was gedenkst du jetzt zu tun? Ich meine, hast du schon mit ihm gesprochen?“ Ihre Augen weiteten sich. „Hat er dich auch erkannt? Dann …“
„Stop. Bitte. Das ist alles zu viel für mich gerade.“
„Nadja sollte das wissen“, legte sie mir nahe, und ich starrte sie so durchdringend an, dass sie den Blick abwendete und sich zur Wand hin entschuldigte. „Ich wollte es doch nur wieder gut machen …“, sagte Schwester Anita hinter meinem Rücken, als ich sie allein in dem Raum zurück ließ.
Es ist ja nicht so, dass ich nicht selbst über Rothe nachgedacht hätte.
Darüber, was es damals war, das er nicht ertragen hatte. Was hat er in Vilshofen herausgefunden, dass ausgerechnet er explodiert ist? Welche Erkenntnis hat ihn so getroffen?
Ich glaube inzwischen, es muss mit der veränderten Wirklichkeit zusammengehangen sein. Dass seine Familie sich in der kurzen Zeit ohne ihn schon so weit verändert hatte, dass sie ihn gar nicht mehr brauchte und gut ohne ihn zurecht kam. Seine kontrollierte Welt brach in sich zusammen, blieb ebenso zurück wie die DDR und darauf war er nicht vorbereitet gewesen. Dahin gab es jetzt ebenfalls kein zurück mehr, die Katzen waren aus dem Sack.
Nadine und Doris waren woanders angekommen als er, ruhten in sich, und wahrscheinlich glaubte er, dass er sie nur erneut mitreißen musste, um gemeinsam am gleichen Ziel anzukommen, an seinem. Was das überhaupt für ein Ziel sei, konnte er bestimmt nicht einmal selbst sagen, nur dass das, was er suchte, nicht in Vilshofen war. Nicht so dicht hinter der Grenze.
Vielleicht begriff er auch, dass er immer noch auf der Flucht war und es gar nicht die DDR gewesen war, vor der er wegzulaufen versucht hatte, sondern vor seinen Frauen. Er hat sie schon in Vilshofen verloren. Ob Doris überhaupt noch an seiner Seite ist?

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