Die Schläge mögen bei Lukas keine sichtbaren Narben hinterlassen haben, aber auf seiner Seele ganz bestimmt. Eine Therapie hat er verweigert, er wollte allein damit fertig werden, so wie mit allem in seinem Leben. Dabei habe ich ihm dazu geraten, denn mir hatte sie sehr geholfen, und er wusste das, hat es damals sogar selbst gesagt. Aber trotzdem blieb er in der Sache ein unverbesserlicher Dickkopf.
Die sichtbaren Narben, wie bei mir oder Nadine sind mir da lieber. Die Huppel an ihrem rechten Knie hat sie nie versteckt, wie es andere Mädchen vielleicht aus Eitelkeit getan hätten, bei ihr gehörten die eben dorthin und fertig. Bei äußerlich sichtbaren Narben sind es immer die anderen, denen sie eher auffallen, als einem selbst. Man selbst vergisst sie, weil sie zu einem Teil von einem geworden sind, wie auch die Erinnerungen, die damit verknüpft sind. Man hat es überlebt, überstanden, und überwunden. Über Wunden. Narbengewebe. Weben. Oha, jetzt werd’ ich auch noch poetisch. Teppich weben… Text weben. Ein Songtext vielleicht? Und wieder die alte Frage: auf Englisch oder auf Deutsch? Scars. Wars. Scar Wars – ha ha, ja genau. Frühstück!
Das Tablet habe ich jetzt mit einer Pin versehen. Schon wieder eine vierstellige Zahl, die ich mir merken muss. Noch immer kenne ich alle wichtigen Telefonnummern von früher auswendig, scheitere heute aber schon an den dreistelligen Notrufnummern, ohne nachzuschauen. Also habe ich aus der Not eine Tugend gemacht, und die Telefonnummern meiner Freunde aus Vilshofen einfach meinen Karten und Pins zugeordnet, denn die Rufnummern in Vilshofen waren passender Weise auch nur vierstellig. Anfangs habe ich die Namen zur Sicherheit noch auf die Karten dazu geschrieben, aber die haben sich mit der Zeit abgerieben. Und alles nur, weil man sonst den eigenen Zeichensalat aus Passwörtern, Karten- und Mobiltelefon-Pins, Hausanschluss und Arbeitsdurchwahl durcheinander bringt. Was man nicht alles tut, um neugierige Blicke aus den eigenen Angelegenheiten heraus zu halten, einschließlich der eigenen, wenn man Pech hat.
Ach, Vilshofen, was soll ich nur mit dir anfangen? Eine typische Kleinstadt halt, und ich bin dort aufgewachsen. Mir kam sie mit ihren damals um die 15.000 Einwohnern kleiner vor, als einem die bloße Zahl glauben machen konnte. Selbst wenn man weiß, dass etwa die Hälfte davon auf Eingemeindungen entfällt, wo sollen die anderen denn alle gewesen sein? Weil auf den Strassen begegnete man nie jemandem. Abseits der Hauptstrassen, dem Stadtzentrum und um die Schulen herum war Vilshofen unter der Woche wie leergefegt, und nach Geschäftsschluss verlagerte sich das bisschen verbliebene Leben sofort in die wenigen Gaststätten, Kneipen und eins der beiden Eiscafés. Und wenn die zu machten, war es wie in einer Geisterstadt. Nur zwei Discotheken lärmten dezent ein bisschen dagegen an, eine am Stadtrand hinter dem Krankenhaus, und die kleine an der Vilsbrücke hörte man nur, wenn die Tür mal versehentlich länger offen stand, und die gibt es eh schon lange nicht mehr. Ansonsten konnte man keine Heugabel an der Wand umkippen hören. Gespenstisch, wie im Dornröschenschlaf, gerade weil einen die nachts höchstens noch gelb blinkenden Ampelanlagen daran erinnerten, dass man hier auf eigene Gefahr unterwegs war.