10.01.20

Gestern war ich nach der Arbeit im Altersheim. Zum Glück, denn Schwester Heide hätte mir sonst noch unbedingt mein Jahreshoroskop vorlesen wollen. Sie versprach es nachzuholen. Eigentlich wollte ich nur Mutter wie besprochen abholen und bei dem Griechen um die Ecke was mit ihr Essen gehen, aber natürlich musste sie vorher „nur kurz was machen“. Also stand ich zunächst ein paar Minuten blöd rum, aber meine Beine waren nach einem ganzen Tag Gerenne in der Klinik so wackelig, dass ich mich einen Moment hinsetzte und aus dem Fenster guckte. Draußen war es schon dunkel, genau wie drinnen, als mich plötzlich eine Stimme aus dem Nichts ansprach.
Ich zuckte zusammen, weil ich nicht registriert hatte, dass in dem Sessel neben mir jemand saß. Ein alter Mann, dessen Haut so eingefallen war, als hätte jemand im vorbeigehen ein Laken über ein Skelett geworfen. Mir hüpfte das Herz gegen den Kehlkopf, bis ich eine Antwort parat hatte. „Bitte was?“
Der Mann räusperte sich, was so klang, als ob er mit einer groben Feile Buchstaben aus seinen hoffentlich dritten Zähnen hobelte. „Ob sie gedient haben.“
“Was? Ach so, ja.” Ich entspannte mich nach dem ersten Schreck etwas.
“Einheit?”
In was misst man eigentlich Schrecken? Meter? Liter? Gramm? Oder in Narben, wie mein Gegenüber? „Nein, ich war im Krankenhaus.”
“Verletzt worden, wa? Osten oder Westen?”
Ich seufzte leise. Es war zwecklos hier etwas erklären zu wollen. „Westen.”
“Gut verheilt”, sagte er und deutete auf meine Handgelenke. Wie hat er das im Dunkeln überhaupt gesehen? „Ich hab welche gesehen, die es damit nicht mehr bis ins Lazarett geschafft haben, oder nicht mehr von dort wieder zurück kamen. Finger zu zittrig, zu tief geschnitten, zu weit. Andere hat die Blutvergiftung geholt. Gut verheilt, alles.“
„Na ja, verheilt hat sich damals wohl das ganze Land. Regelmäßig.“
„Bitte?“ Er lehnte sich vor, und ich fürchtete sein Schädel könnte ihm vom Hals in meinen Schoß rollen.
Schnell das Thema wechseln. „Wo waren sie denn im Lazarett?“ „Nirgends. Nicht einmal. Ein Wunder, sag ich dir. Ich war überall dabei, um mich herum hat es alle erwischt, und ich immer durch. War mir unheimlich. Und dann kriegt dich nach dem Krieg der Krebs. Meer konnte ich noch nie leiden. Gebirgsjäger halt“, sagte er entschuldigend. „Hier schimmelt alles.“
Stille breitete sich zwischen uns aus, die Worte glitten zu Boden und verschmolzen mit dem Fliesenmuster. Meine Mutter ließ immer noch auf sich warten, also konnte ich auch versuchen den Gesprächsfaden irgendwie nicht abreißen zu lassen. Wer wusste schon, ob nicht sein Leben davon abhing? Oder daran, wie an einer Angel, die ich nur vorsichtig einzuholen brauchte. „Fehlen ihnen die Berge?”
“Ach wo, jetzt ist schon jede Treppe eine Herausforderung, vor der ich kapituliere. Unter wem haben sie nochmal gedient?”
„Oberst Keuch, Heeresgrippe Nord, obere Atemwege.“

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