05. November 2019 – Nachtschicht

Jetzt kann ich mich endlich konzentrieren. Ich mampfe noch unausgeschlafen Müsli, kleckere dabei das Tablet voll und wische es einfach wieder trocken. Das ist viel praktischer, als so ein altmodisches Notizbuch. Auf jeden Fall sauberer, und fängt nicht irgendwann an unangenehm zu müffeln. Und das ist doch Spritzwasser geschützt? Also auch Milch? Egal jetzt. Weiter:

Obwohl wir uns nichts anmerken ließen, Daniel die Zähne zusammen biss und den geläuterten Sohn gab, dauerte es drei Wochen, bis er eines freitags endlich mit uns raus durfte. Unser erster gemeinsamer Abend seit den Sommerferien, die schon unendlich weit weg waren.
Wie teuer er sich dieses Quäntchen Freiheit erkauft hatte, wussten wir seit dem Moment, als er das Klassenzimmer betreten hatte. Es war schlagartig stumm geworden, als hätte man jedes einzelne, abgeschnittene Haar zu Boden fallen hören. Sein langes, welliges Haar war weg, und dort war nur noch ein brutaler Kurzhaarschnitt übrig geblieben. Nicht ganz „Full Metal Jacket“, aber viel gefehlt hat da nicht. Ob es unser aller entsetzten Gesichter waren, die ihn andeutungsweise lächeln ließen, weiß ich nicht – ich war genug damit beschäftigt überhaupt wieder zu atmen. Lukas hatte Tränen in den Augen.
„Was zum…“, stammelte ich. „War das etwa – -“ Ich wagte nicht auszusprechen, was ich dachte.
Daniel schüttelte den Kopf. „Das war ich selber.“
Ungläubig starrten wir ihn an, aber wir mussten ihm glauben. Denn wenn er es nicht selbst gewesen war, dann hätten wir mit weiteren Zeichen eines Kampfes rechnen müssen, aber da waren keine. Ihm war kein einziges Haar gekrümmt worden. Also im übertragenen Sinne.
„Vater sagt, ich käme endlich zur Vernunft“, verkündete Daniel mit einem vielsagenden Lächeln auf den Lippen. „Wollen wir heute Abend was zusammen unternehmen? Ich hätte bis Elf nichts vor.“
Immerhin ließ ihn sein Alter jetzt ein wenig von der Leine. Endlich!
Lukas wollte ihn zunächst zu Fuß abholen, was Daniel ablehnte, aber aus anderen Gründen, als wir dachten. Er wollte seinen Eltern nicht den Hauch eines Anlasses geben, Verdacht zu schöpfen, also würde er zu Lukas kommen, und so haben wir es auch gemacht. Als er sich verspätete, ist Lukas ihm entgegen gegangen, bis zur Videothek an der Ecke zur Königsberger Straße, da hat er ihn dann schon gesehen. Den Rest des Weges gingen sie schweigend nebeneinander her. Daniel hätte nur tief durchgeatmet, immer größere Schritte gemacht und ihn zwischendurch munter angelächelt. Lukas hätte kaum Schritt halten können, und erwiderte das Lächeln unsicher. Als sie durch die Kreppe liefen, hörte ich schon das Echo ihrer Schritte, dann sah ich sie, lief ihnen entgegen und Daniel fiel mir um den Hals. Mir war als ob er zitterte, aber das war vielleicht auch ich selber, gesagt hatte er da jedenfalls noch nichts.
Wir waren mit Monika nicht ganz aus der Fischerzeile heraus und auf die Vilsbrücke gefahren, da schrie Daniel endlich seinen ganzen Frust und Hass auf dem Beifahrersitz aus sich heraus, dass uns die Ohren klingelten. Lukas drehte die Anlage bis zum Anschlag auf, was nicht viel war. Lukas hatte aber vor bessere Boxen zu besorgen, selbst wenn er dann mehr Luft in die Hinterreifen pumpen müsste. In dem engen Auto fühlte er sich endlich unbeobachtet, frei und uns blieb keine Wahl als seinen Schmerz zu teilen. Nichts daran war befreiend, er klang wie ein verwundetes Tier, das sich sein Bein abgenagt hat, um aus einer Falle zu entkommen. Lukas und ich wagten nichts zu sagen. Nachdem wir aus der Stadt heraus waren und die Dunkelheit unser Gefährt umschlungen hatte, brach Daniel mit einem lauten Seufzer sein Schweigen mit einer Beiläufigkeit, die mich beinahe noch mehr erstaunte, als sein Ausbruch.

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