27.01.20

Habe mich die zweite Nacht in Folge traumlos herumgewälzt, aber aufstehen wollte ich auch nicht. Meine Gedanken ratterten bis mir schwindelig war und ich wollte nur, dass es aufhört. Nichts half, kein ASMR, keine Musik, kein Heulkrampf. Alles drehte sich weiter und zurück zum Ausgangspunkt, riss mich wie die Schaufel eines Braunkohlebaggers mitsamt meinem Bett durch die Wände über das Haus, und kippte mich in meiner Wohnung wieder aus.
Gestern fragte ich mich noch, was könnte schlimmer sein, und heute weiß ich es. Denn heute ist Holocaustgedenktag, Jubiläumsausgabe, jetzt 75 Jahre Befreiung von Auschwitz. 75 Jahre des vergeblichen Versuchs der Mehrheit der Deutschen Bevölkerung sich von ihrer Verknüpfung mit Auschwitz zu befreien. Das ist wie mit dem gleichen Leberfleck geboren zu sein, den schon ein Elternteil hatte; man kann nichts dafür und hat es doch. Nein, der Vergleich hinkt.
Mir steht der Kopf auch noch nicht wieder gerade, obwohl er gestern von Daniel zurechtgerückt worden ist, wie noch nie. Ich konnte unmöglich zu Hause bleiben, also schleppte ich mich ins Altenheim um Mutter zu besuchen. Rückwirkend betrachtet der dümmste Ort, an den ich am heutigen Tag gehen konnte. Unterwegs dachte ich noch an Geddy, der ja das Kind von Holocaust-Überlebenden ist, die nach ihrer Befreiung aus dem KZ nach Kanada ausgewandert waren. Dass man es da anstatt zu verstummen auch noch schafft überall auf der Welt zu singen und Menschen zusammen zu bringen, freut meine Seele.

Als mich Fichter erkannte, hatte er Tränen in den Augen. „Du lebst! Ich hab für dich gebetet, und diesmal hat mich Gott erhört. Gebetet hab ich!“
„Aber natürlich komme ich wieder, ich war nur in der Klinik, arbeiten.“
„Vergessen sie’s, junger Mann“, unterbrach mich eine Frauenstimme hinter mir. „Sein Fluch ist, dass er selten etwas länger erinnert, als eine Woche.“ Ich drehte mich um, und da stand auf einen Stock gebückt eine weißhaarige Frau, die mir militärisch salutierte. Dann erst begriff ich, dass sie ihre freie Hand nur deshalb über ihre Augen stützte, weil sie das Gegenlicht blendete.
„Das ist schrecklich“, sagte ich.
Herr Fichter redete indes unbeirrt weiter, ob zu mir oder sich selbst, wusste ich nicht. „Immer Neue. Niemand, den ich kenne. Ich bin der letzte meiner Einheit. Zur Ablösung kommen immer andere …“
Ich schluckte und bot der Frau meinen Stuhl an, was sie dankbar annahm.

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