19. September 2019

Lukas ist derjenige, der in Vilshofen am meisten Zuhause war. Es hat ihn nie richtig in die Welt hinaus gezogen, er hatte dort alles, was er zum Leben und glücklich sein brauchte. Am meisten vermisste er noch den Eginger See, weil ihm fließende Gewässer ein wenig unheimlich waren.

Ich und Daniel haben uns oft über seine Seßhaftigkeit gewundert, denn wir hatten Hummeln im Arsch, wir konnten gar nicht oft und lang genug aus Vilshofen weg sein, nichts hielt uns dort. Außer Lukas natürlich. Er war wie der Junge in „ES“, der in Derry blieb, obwohl dort ein Monster unter der Stadt schlummerte. Oder wie Stephen King selbst, der ja genauso wie seine Geschichten in Maine klebte. Die beiden würden sich bestimmt blendend miteinander verstehen.

Aber woran lag das? Denn diese Heimatverbundenheit hatte nichts patriotisch Verklärtes an sich, er nahm alles so, wie es war, die guten wie die schlechten Seiten, positionierte sich eindeutig dazu und man konnte ihn immer beim Wort nehmen. Lukas schien aus der Zeit gefallen zu sein, wurde nicht von Strömungen um ihn herum erfasst, drehte sich wie ein kleiner Strudel am Flussufer gegen die Stromrichtung und machte es sich dort gemütlich, wie eine Katze, die sich zum Nickerchen eindreht. Wie ein stehendes Gewässer, dessen Strömungen man nicht gleich erkennt. Jedenfalls behauptete er, dass es im Eginger See Tiefenströmungen gab, die einen unter Wasser ziehen konnten. Das war das vielleicht einzige, wo wir uns nie sicher waren, ob er uns verarschte, aufzog oder schwindelte.

In Vilshofen käme außerdem früher oder später die ganze Welt vorbei, wenn er nur lange genug warten würde. Das Flüchtlingslager gab ihm da sogar ein bisschen Recht. Oder Bands, die im Pa-Hof spielten. Die Geduld einfach an Ort und Stelle zu warten hatten wir nicht. Vielleicht war Lukas aber schon in diesem Zen-Zustand zur Welt gekommen. Das hatte auch Vorteile. Denn Lukas konnte an Vilshofen ablesen, was wirklich blieb. Er las die Stadt wie Wahrsager Kaffeesatz. Vilshofen war seine Skala, sein Lakmustest für alles. Blieb etwas dort haften, hinterließ es Spuren, erst dann sah er genauer hin. Moden kamen und gingen, manchmal gleich zusammen mit den Lokalpolitikern, die sich dafür eingesetzt hatten. Wer nicht genau hinsah, hätte ihn mit einem Sturkopf verwechseln können, aber das war er nicht. Aber ihn warf so leicht nichts aus der Bahn, Lukas war der Fels in der Brandung.

Vilshofen war für mich nie richtig Heimat geworden, wegen dem doch so großem Minderwertigkeitskomplex der Kleinstadt. Den kann man inzwischen sogar offiziell am Zusatz „an der Donau“ ablesen, um wenigstens nicht länger mit dem Namenszwilling nördlich von Regensburg verwechselt zu werden, das kaum mehr zu bieten hat als einen Wirt, einen Getränkemarkt und den obligatorischen Sportverein. Dabei gibt es dort ja auch eine Vils, und an dieser Dopplung lässt sich doch wunderbar ablesen, wie klein die Welt einmal für die Vilshofener gewesen sein muss, dass die aus dem einen jenen aus dem anderen nie begegnet sind. Die müssen sich einmal so fremd gewesen sein, wie Ost- und Westdeutsche 1989, und sind es wahrscheinlich immer noch. Denn genau wie in tiefster Vergangenheit, kommen weder die einen, noch die anderen Vilshofener heute in ihrem Alltag weit über ihre Stadtgrenzen hinaus (und wenn dann eher in einen Ferienflieger), doch deswegen will noch lange kein Niederbayer versehentlich für einen Oberpfälzer gehalten werden – und umgekehrt.

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