Als ich kleiner war, habe ich öfter bei Mama im Altenheim im Kino gesessen. Es war gar kein richtiger Kinosaal, sondern nur ein fensterloser Raum, der sich deswegen besonders gut für Vorführungen mit einem 16mm Projektor eignete. So sah ich einige Filme, die für mich meistens langweilig waren. Es fehlte ihnen an Action, aber sie sollten dem Publikum eben nicht den Blutdruck zu sehr in die Höhe treiben. Das genaue Gegenteil meiner Erfahrung mit Videorekordern. Das Programm unterschied sich nur unwesentlich von dem, was man an einer Schule im Religionsunterricht hätte zeigen können.
In vielen Fällen entsprach das auch exakt den Tatsachen, denn Herr Schlichting, den man im Gymnasium nie ohne Filmrolle unter dem Arm und Projektor in der Hand begegnete (und vielleicht deshalb immer ein wenig aus der Puste klang), tauschte Filme mit meiner Mutter, oder überließ sie ihr für eine Vorführung. Ich weiß es nicht so genau. Manchmal führte er auch selbst bei uns vor, denn auch diese älteren Schäfchen waren ja seine, auch wenn die nicht mehr auszubüxsen drohten. Ich glaube, er guckte einfach wirklich gerne Filme. Niemand in Vilshofen verstand die Macht der bewegten Bilder besser, als er.
Außer vielleicht dem alten Ehepaar, die das kleine Kino in der Furtgasse betrieben. Schlichting war Filmen schon damals genauso verfallen, wie wir heute. Genau genommen nahm er es sogar vorweg. Heute haben wir unsere Smartphones, auf denen wir unseren Lieblingsfilm mit uns herum tragen können, und er hatte den Projektor, wie an seinen Arm gelötet, ein Cyborg, wie er im Buche steht, wenn auch nicht gerade der Bibel. Ein Cyborg, ja, aber kein bisschen bedrohlich, immer mit schnellen, kurzen Schritten unterwegs, und meistens zu spät dran. Auch seine Stimme hatte die Melodie von jemandem, der leicht außer Atem ist, weil er gerade einen kleinen Berg hochläuft, dort schnell Luft holt, ehe er auf der anderen Seite wieder herunter eilt. Seine Sätze trieben dahin wie ein Boot über Wellen. Ich hörte ihn auch noch in den ökumenischen Gottesdiensten, die er zu Schulanlässen mit Dieter Köckhuber, dem evangelischen Pfarrer hielt.
Ich weiß nicht, wie er im katholischen Religionsunterricht war, aber wenn ich ihn neben dem ratternden Projektor im Altenheim stehen sah, wirkte er so friedlich und in sich ruhend, dass man neidisch werden konnte.
Es waren auch weniger die Filme, denen meine Aufmerksamkeit galt, sondern die Zuschauer. Anfangs störte ich mich vor allem am Geruch dort, diese zu süßliche Mischung aus zu viel altem Parfüm, Desinfektionsmittel und wenig vorteilhaften Köperausdünstungen, unter dem immer auch ein Hauch von Urin zu schweben schien. Aber wenn man sich daran gewöhnt hatte (und man gewöhnt sich an alles), dann übernahmen andere Sinne die frei gewordene Aufmerksamkeit. Ich konnte auf fünf Minuten genau vorhersagen, wann Herr Kahlisch einschlafen, und zu schnarchen beginnen würde. Mama sagte, er schliefe dort an die Wand gelehnt besser, als in seinem Bett. Darum kam er auch jeden Tag. Mutter versuchte ihn dazu zu bringen, dass er alle paar Tage die Seite wechselte, was er ablehnte, und so hing sein Kopf eben immer ein wenig nach links, als würde er über etwas nachdenken. Die anderen drehten einfach ihre Hörgeräte auf seiner Seite leiser, so dass sie nicht von seinem Schnarchen abgelenkt wurden.
Die Geräusche des Publikums waren grundsätzlich lauter, als die vom Film, und der Projektor ratterte in meinem Kopf alle Eindrücke neu zusammen wie eine Nähmaschine. In den zuschauenden Gesichtern spiegelten sich meistens mehr Emotionen, als auf der Leinwand, und setzten die Handlung manchmal sogar fort und umgekehrt. Etwa wenn jemand glaubte seine Kinder in den Filmen zu erkennen, und aufstand, nur um sich einen Schnitt später nicht mehr in der Welt zurecht zu finden. Mit solchen Dramen konnte kein Film mithalten, und es sind solche Reaktionen, die ich bis heute mehr mit manchen Filmtiteln verbinde, als deren Schlüsselszenen.