11.01.20

Es ist wie im Club der toten Dichter gewesen. Draußen liegt Schnee und dein Freund weckt dich aus dem Schlaf. Ich möchte auch nur schreiend hinaus laufen, in die Schönheit einer Winterlandschaft hinein und mich dort erbrechen. Jetzt ist auch mein Neil dort Mitglied geworden.
Ich konnte die halbe Nacht nicht schlafen, und die andere Hälfte bin ich in der Wohnung auf und ab gelaufen. Und ausgerechnet jetzt habe ich freie Tage, weil ich kurzfristig ein paar Nachtschichten übernehme. Arbeit wäre jetzt eine willkommene Ablenkung, aber bevor ich da Infusionen vertausche … ach Neil, warum gerade du? Krebs. Ein beschissener Hirntumor. Steht so auf der Rush-Webseite. Es ist keine Fehlinformation, sie sagen es ja selber. Und sie wussten es, wahrscheinlich von Anfang an, aber keiner hat was gesagt. Alex und Geddy haben dicht gehalten, selbst als sie die Band aufgelöst haben. Ob sie etwa deswegen … Oh mein Gott, das hatte damals gar nichts mit Tendinitis zu tun. Oder irgendwie beides, aber den Rücken haben sie ihm freigehalten, und dann hat er noch fünf hoffentlich gute Jahre mit diesem Scheißding in seinem Kopf gelebt. Und ich Depp wünschte mir nur die nächste Tour.
„Das konntest du nicht wissen“, hat Daniel am Telefon darauf gekontert, aber das habe ich nicht gelten lassen.
„Nein, wir sind mitschuldig. Das ist die bittere Wahrheit“, stieß ich stockend hervor und ließ meinen Tränen freien Lauf. „Wir sind doch eine Familie! Cobain haben wir genauso auf dem Gewissen, weil immer mehr Touren angesetzt wurden, bis er keine ruhige Minute mehr hatte. Wie oft muss man Rush denn im Leben live gesehen haben? Dreimal? Fünfmal? Wo ist die Grenze, Daniel? Wann wird es einfach zu viel, bis der Körper nicht mehr kann?“
„Du übertreibst, Johann. Er ist seinen eigenen Ansprüchen nicht mehr gerecht geworden. Der Teil war damals nicht gelogen.“
„Aber mit den Lügen muss Schluss sein!“, schrie ich. „Er könnte noch leben, wenn wir es gewusst hätten …“
„Red doch keinen Sch…“
„Wir hätten Gott und die Welt in Bewegung gesetzt, um das zu verhindern!“
„Ich glaube er hätte lieber seine Ruhe gehabt, und vor allem selbst entschieden.“
„Oh, das sagt sich so leicht dahin, Daniel. Er war wie ein Vater für mich.“
„Das weiß ich doch.“
„Genug ist genug. Diese Lügenmärchen bringen uns um. Früher oder später. Die sind der Tumor, den man bekämpfen muss, weil sonst zieht eine Lüge die nächste nach sich, der Tumor wächst und wächst, und dann ist es irgendwann zu spät um reinen Tisch zu machen.“
„Wieso fängst du wieder damit an?“, fragte Daniel unsicher. „Ich dachte, dass hätten wir ein für allemal geklärt?“
„Gar nichts ist klar!“, polterte ich weiter, ohne überhaupt richtig zuzuhören. Da war so viel was ich einfach nur rauslassen wollte und doch nicht sagen konnte, weil mir die richtigen Worte fehlten. Wieder einmal. Wie immer. „Wann der Tumor zu groß ist um noch operabel zu sein, das haben wir nicht zu entscheiden, Daniel. Die Wahrheit spricht für sich selbst. Immer. Sie ist das einzige Gegenmittel, dass das Scheißding einem nicht über den Kopf wächst. Irgendwann ist man dann so weit auseinander, wie du und dein Vater. Da bringt man nichts mehr zusammen. Was wenn einer von uns vorher stirbt? Also bevor man die Chance hatte reinen Tisch zu machen? Das ist mein Ernst.“ Und so ging es endlos weiter, bis ich heiser war.

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