Dann hatte Lukas und Daniel am Donnerstag die Schule wieder, denn ich half ja immer noch im Lager. Meine Mutter versicherte mir, dass sie mir eine entsprechende Entschuldigung schreiben würde, falls mir jemand deswegen Ärger machen sollte. Irgendeine Krankheit, weil nur dann fragte niemand nach. Die Wahrheit hätte nicht interessiert. Dass ich für das Rote Kreuz Menschen half, stellvertretend für uns alle, zählte nicht. Die Schulpflicht ging vor, und wenn ich dort nicht wie im Feldlazarett Operationen durchführen würde, dann war es nichts anderes als Schwänzen, was ich in ihren Augen wirklich tat. Ich war da halt anderer Meinung. Nicht nur am Wochenende, sondern auch wochentags. Was mich verdächtig an die Rhetorik rund um Fridays For Future erinnert; es hat sich in den letzten 30 Jahren rein überhaupt nichts verändert. Die Unterrichtszeit ist heilig.
Daniel schrieb niemand eine Entschuldigung, und Lukas hätte sich selber eine ausgestellt – er hatte sich sogar schon im Sommer einen entsprechenden Abreißblock gebastelt, fix und fertig bereits von ihm unterschrieben. Damit lief er herum, als handele es sich um ein Scheckbuch. Aber da er Daniel nicht allein lassen konnte, ging er tatsächlich von sich aus zur Schule. Und zwar zu Fuß. Damit die Sache mit dem Trabi von gestern nicht mit dessen Konfiszierung endete, wie zuvor schon bei seinem Yo-Yo, diversen Springbällen, Styropor- Flugzeugen, einem Fangbecher, und dem Ding dessen Namen ich nicht weiß: eine Art Tischtennisschläger, an dem der Ball mit einer Gummischnur befestigt ist? Alles Sachen, die nicht zum Stillhalten gedacht waren. Lukas wollte diesmal wohl nichts riskieren, es war aber mehr ein Reflex. Ich muss ihn mal fragen, ob er von der Schule träumt und dort die Schränke nach seinen Sachen durchsucht.
Ich selbst kam währenddessen mit einem unguten Bauchgefühl im Lager an. Auf den ersten Blick sah alles normal aus, vielleicht eine Idee leerer, als gestern um die gleiche Zeit, nur dass sich das heute nicht mehr ändern würde. Es war eindeutig, der Andrang ging zurück, die Lage wurde überschaubar. Auch vorher hatte es schon Leerlauf gegeben, man guckte halt wer was brauchte, war Ansprechpartner, und wenn es die Zeit erlaubte hörte man einfach nur zu. Die Freude der Geflüchteten war noch immer ansteckend, aber sie erreichte mich nicht mehr so wie zuvor. Dafür konnten die Flüchtlinge natürlich nichts, es waren die Erlebnisse des letzten Tages, die mir schmerzhaft in den Knochen steckten. Anstatt die gemischten Karten gerecht zu verteilen, hatte das Schicksal mit und eine Runde „36 glaub auf“ gespielt.
Es war der Tag, an dem der Gschwendtner Uwe oder Jean-Michel die Lüge mit den Bauarbeiten auf dem Bergerparkplatz erzählte. Wenn ich heute darüber nachdenke, dann glaube ich, dass Moog da schon wusste, dass das nicht der Wahrheit entsprach, denn wieso wäre das nicht schon knapp einen Monat zuvor Thema gewesen, als das Lager dort geplant wurde? Es war ein ritualisiertes um den heißen Brei herum reden gewesen, bei dem beide wussten, dass es nicht stimmte, aber es hielt die Fassade aufrecht. Politik halt. So hatte man eine Erzählung für die Mitarbeiter. In dem Fall für Uwe, das Rote Kreuz und alle anderen Helfer. Auch für Gschwendtner war es nur eine Ausrede, die die wahren Beweggründe überdeckte, aber welche? Sicher ging es dabei um was häßliches, irgendwas mit Finanzen, wer die Zeche am Ende zu zahlen hat: die Wähler. Eine öffentliche Diskussion darüber vor einem Wahljahr konnte einen alle Sympathien kosten, schneller als man sie sich überhaupt erarbeitet hatte.