10. Dezember 2019 – Spätschicht

Der Umzug nach Berlin gefiel Nadine anfangs gar nicht. Sie brauchte eine Weile um sich dort sicher zu fühlen, und Daniels Argumentation, dass man sie dort garantiert zuletzt suchen würde, überzeugte sie nicht wirklich. Wahrscheinlich nicht mal Daniel selbst. Wäre die Mauer noch geschlossen gewesen, und nicht löchrig wie ein Schweizer Käse, hätte Nadine sich vielleicht sicherer gefühlt. Denn so konnten auch Stasi-Agenten leichter denn je durch den eiernden Vorhang schlüpfen und einem auflauern.
„Bist du bekloppt? Dann haben die mich ja gleich!“
„Wenn wir im Westen bleiben, dann haben sie mich gleich.“
„Ach ja? Wer denn?“
„Na der Bund“, erklärte Daniel. „Oder die Polizei, die holt sogar Schulschwänzer ab.“
„Besser eure Bullen als unsere Stasi.“
„Jedesmal kommst du wieder mit der Stasi! Das ist deine Antwort auf alles, ich hab noch keinen gesehen.“
„Weil du eben kein Auge für die hast!“
Aber noch gab es das alte West-Berlin, und dort siedelten sie sich an. Nach einer eher gruseligen Zeit in einem besetzten Kreuzberger
Haus fanden sie eine Mini-Wohnung in Steglitz in der Kniephofstrasse. Man hörte die S-Bahn und wenn der Wind schlecht stand sogar vom Schönerberger Kreuz die Stadtautobahn. Eigentlich konnten sie sich nicht einmal das leisten, aber irgendwie schafften sie es doch alle paar Monate, die rückständigen Mieten immer genau dann zu bezahlen, wenn der Hauseigentümer mal wieder drauf und dran war sie vor die Tür zu setzen.
Aber je mehr Möbel sie anschafften, desto mehr sah er davon ab. Vielleicht weil es dann nicht mehr nur ein paar Kartons und zwei Koffer waren, die er spontan auf die Straße hätte stellen müssen, sondern einen zunehmend die Bandscheiben belastenden Hausstand. Außerdem bewies ihm die Reihenfolge der Anschaffungen, dass es sich hier nicht um potentielle Hausbesetzer handelte, sondern um in ihre Rolle als Mieter noch hineinwachsende, junge Erwachsene. Denn dass sie sogar noch vor Matratze und Kühlschrank eine gebrauchte Waschmaschine erwarben, muss ihn nachhaltig beeindruckt haben.
Er konnte ja nicht wissen, dass sich hinter der Abdeckung der Waschmaschine ein Kilo Gras versteckte, das sie im Tausch gegen die Maschine abseits vom Kreuzberger Kiez und möglichen Hausdurchsuchungen für ihre ehemaligen Mitbewohner zwischenlagerten. Eine echte Win-Win-Win Situation, mit der sie sich alles andere als wohl fühlten, sogar eher ein bisschen dreckig. Vor allem, weil sie die Waschmaschine nicht ohne Risiko in Betrieb nehmen konnten, und ihre Wäsche stattdessen lieber im Waschbecken wuschen. Aber es war ein Weg in die ersten eigenen vier Wände in Berlin gewesen. Als das Zeug alle war, hatten sie tatsächlich ihre Ruhe, denn Steglitz war den Kreuzbergern schon zu weit weg vom Schuss.
Die spartanische Einrichtung wurde langsam aufgestockt und sogar gemütlich, zum Überleben reichte es. Ihr Kühlschrank, so eine DDR- Marke läuft sogar angeblich noch immer. Nur steht der nicht mehr bei ihnen Zuhause, sondern in dem Studio, wo Daniel arbeitet.
Jetzt wohnten sie im Brunnenviertel, oder war das schon Wedding? Jedenfalls ziemlich genau da, wo mal die Mauer verlaufen ist, ich weiß gar nicht ob das jetzt früher West oder Ost gewesen wäre.

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