„Hatten Sie denn mal einen Hund?“, versuche ich mich an Konversation, und jetzt schüttelte Mutter vehement den Kopf. Ob das heißen soll, dass sie keinen hatte oder nicht spricht, werde ich vielleicht nie erfahren, denn die Puzzle-Dame blieb mir eine Antwort schuldig. Auch nachdem ich ihr ein paar rosa Teile zugeschoben hatte, irrlichterte ihr Blick weiter über das gewollte Chaos vor sich.
Aber unterschied sich mein Leben so sehr von ihrem? Ich hatte die Puzzleteile meines Lebens gesammelt, aber kein Motiv bei dem ich hätte spicken können, was wohin gehört. Ecken hat es auch keine, wenn man von der Geburt absieht, und da sind überall Lücken geblieben oder inzwischen entstanden. Die obere und untere Kante sind einigermaßen klar umrissen, aber das Ende kann jederzeit von rechts kommen. Es kommt immer von rechts. Und dann bleiben immer Teile übrig, die nirgendwohin passen wollen. Tausend Jahre, tausend Teile, reicht mir jetzt. Ich muss hier wieder raus, also verabschiedete ich mich von Mutter und ging draußen spazieren, bis mir die Füße weh taten. Ein Todesmarsch für meine Gedanken.
Wie könnten sich jemals Nachkommen dieser Mördergeneration davon lösen, ohne dazu verdammt zu sein dann ihre Verbrechen zu wiederholen?
In Vilshofen hat Mama ihnen manchmal Puzzlestücke versteckt um sie zu beschäftigen und anderen Schachteln danach suchen lassen. Dann zählten sie Teile ab und häuften sie gruppenweise vor sich auf. Heute lösten sie stattdessen Sudokus, oder auch nicht. Die kognitive Anstrengung dahinter war ungefähr gleich, meinte Mutter.
Was abgenommen hätte, wären die Beschwerdebriefe. Also nicht von Angehörigen, sondern der Rentner selbst. Früher schrieben sie tagein tagaus pingelige und wütende Leserbriefe an jedes Medium, das sie erreichte. Das hatte Mama damals gefördert, weil es mehr Hand- und Augenkoordination erforderte, und der Generation keine Probleme bereitete. Handschriftlich verfasstes Wutbürgertum, das eher als Kuriosum in den Zeitungen landete, als Schmunzler für die Leser. Heute dürften sich alle überall empören, und der Dauerlärm wird nicht mehr belächelt, sondern stattdessen ernst genommen, und der älteren Generation müsse angeblich „Respekt“ gezollt werden. Und irgendwie habe ich den Verdacht, dass damit die Mörder von vorgestern gemeint sind, auf deren Denazifizierung wir bis heute vergeblich warten.
In Anbetracht dessen wirkt das nur mantrahafte Wiederholen der Halbsätze „Nie wieder“ und „kein Vergessen“ unvollständig; da fehlt überall noch die aussagekräftige Hälfte, jedenfalls wenn man die Themen einbezieht, die dem Volk das restliche Jahr über wichtig sind. Dann heißt es nämlich richtig: „Nie wieder auf der Überholspur bremsen müssen“ und „kein Vergessen der Autoschlüssel“. Selber Opfer sein ist angenehmer, als den Opfern unserer Großeltern gedenken zu müssen.
© Jens Prausnitz 2023