27.01.20

„Es ist selten, dass jemand aus ihrer Generation so offen darüber spricht. Hätte ich hier am heutigen Tag auch nicht erwartet.“
„Tut mir leid, was ist denn heute? Sonntag?“
„Nein, Montag, der 27.01? Holocaust-Gedenktag. Der 75ste. Wahrscheinlich will man die Bewohner nicht zu sehr aufregen.“
„Darauf würde ich nicht bauen. Es wäre durchaus lukrativ für das Haus mehr freie Betten zur Verfügung zu haben.“
„Oh.“ Ich schluckte. „Und warum haben sie dann nach dem Krieg mit keinem unschuldigen Mann angebandelt? Also nachdem sie ihren ersten für tot erklärt hatten?“
Sie presste die Lippen aufeinander und atmete lang und tief durch die Nase ein. Dann machte sie ein langgezogenes „Pffft“ durch den Mund. „Weil ich selbst mit Schuld beladen bin, aber das möchte ich dir nicht alles erzählen.“
„Okay, dann vielleicht ein andermal? Aber sie könnten mir ja sagen, wo es für sie anfing.“
„Oh, das ist leicht: beim BDM.“
„Dem Bund deutscher Mädchen?“
Sie schüttelte den Kopf. „Mädel, nicht Mädchen. Vielleicht hätte uns das schon zu denken geben sollen, aber wie soll das gehen, wenn man gerade die schönste Zeit seines Lebens genießt?“
„Bitte was?“
„Das war wie Ferienlager, endlich raus aus dem bürgerlichen Mief, mit gleichaltrigen in der Natur sein, herumalbern und toben, du fühlst dich sicher und hast Spaß wie noch nie, dass du die Zeit anhalten möchtest.“ Wieder sah sie jünger aus, als sie war.
„Tut mir leid, ich kann mir das nicht vorstellen.“ Wie soll man auch sorglos fröhliche Mädchengesichter beim Reiten mit den Leichenbergen der Befreiung zusammen kriegen? Conni rettet in ihren Bilderbuchgeschichten heute ja dauernd irgendwen, aber Conni verhilft Oma mit dem im Hühnerstall versteckten Motorrad zur Flucht vor dem Mossad wär wohl eher ein Ladenhüter geworden.
„Was ist denn daran so schwer? Für jemanden wie mich war es eine Chance aus dem bürgerlichen Mief heraus zu kommen, und für die vom Land die ersten Ferien ihres Lebens. Einmal umsorgt sein, restlos glücklich. Es war wie ins Paradies zu kommen. Das mit den Juden kam erst später.“
Ich zuckte ein bisschen zusammen. Es macht mich jedes Mal fertig, wie gedankenlos diese Generation das immer noch über die Lippen bringt. Diese Leichtigkeit, als sei es nie millionenfach als Schimpfwort missbraucht worden. Unsereins macht einen Bogen darum oder hat Bauchschmerzen, weil einem die Fußnoten dieses Begriffs so schwer im Magen liegen.
Marla fuhr fort. „Es begann mit der Instrumentalisierung dieser jugendlichen Sehnsucht nach etwas Größerem, einem Sinn im Leben. Na ja, und der war halt Hitler und Deutschland. Wie hätten wir das nicht glauben können?“
„Und was hat sie da wieder rausgeholt?“
„Ich wurde verhaftet.“ Ihr Blick wurde stumpf.
„Von der Gestapo?“
Sie seufzte. „Den Alliierten.“
Mir klappte gerade die Kinnlade herunter, als Mutter herein kam, ungewöhnlich blass um die Nase.

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