27.01.20

„Setz dich doch“, sagte ich, aber sie schüttelte nur den Kopf.
„In den Nachrichten kam gerade, dass es erste Corona-Fälle in Bayern hat, in Starnberg.“
„Scheiße, das ist neu.“ Frau Jaschke sah mich strafend an. „Ist mir so rausgerutscht, Verzeihung.“
So nah hat es glaube ich noch keine dieser asiatischen Viren hierher geschafft. Mers war ja eher was mit Kamelen, und die haben wir hier nur im Zoo oder Zirkus. Gut, ja, die Vogelgrippe hatte mal Bilder produziert, aber das jetzt? Das ist neu. Gefällt mir nicht. Und es fühlt sich trotzdem so an, als würde uns damit unsere gerechte Strafe ereilen. Ich kann heute einfach nicht anders, als diese Verknüpfung zu machen. Ein Automatismus. Reflex. Mit einem Seufzer sah ich zu Herrn Fichter. „Ob er wohl noch sein Gewehr blind auseinandernehmen und wieder zusammensetzen könnte? Also nur vom Muskelgedächtnis her?“
„Das hält in der Tat länger, als das im Kopf“, sagte meine Mutter bestätigend. „Aber bitte stell ihn nicht auf die Probe, er fühlt sich ja eh schon wieder von Russen umzingelt, und ich möchte nicht, dass er anfängt die osteuropäischen Pflegekräfte zu erschießen.“
„Die die Enkelinnen seiner Opfer von damals sein könnten“, fügte Marla hinzu und brachte uns damit endlich alle zum Schweigen.

Die Schuld der anderen zu betrachten, wenn man gerade überraschend Vater geworden ist und seine besten Freunde belogen hat, beziehungsweise Jahre später darauf hingewiesen wird, dann will man auch das nicht wahrhaben. Ich habe zwar niemanden auf dem Gewissen, aber ich habe eins, und das tut gerade weh. Vorher war’s ehrlich gesagt angenehmer. Also ohne die Wahrheit zu kennen, die mir angeblich so wichtig war. Ich kannte sie selber nicht, sondern nur den Teil, den ich wahr haben wollte. Mit dem ersten Stein mag ich nicht mehr werfen, nicht einmal mehr mit einem klitzekleinen Kiesel.
Ich verabschiedete mich von Frau Jaschke und half einer anderen Mitbewohnerin bei einem Puzzle mit 4000 Teilen, wie hier schon einige fertiggestellte gerahmt an der Wand klebten. Wir saßen an einem Tisch mit dem vollständigen Motiv im Rücken. Jedenfalls wenn der Packungsinhalt mit dem Deckel übereinstimmte, was sich noch nicht wirklich erahnen ließ. 4000 sind halt doch eine Menge … wie wäre es dann erst mit 6 Millionen der Lager? Oder 20 Millionen Zivilisten allein im Osten? Würde das nicht bereits den ganzen Raum füllen? Wenn nicht, bräuchte man nur ein bisschen weiter addieren, bis es einen endlich erdrückt. Ich versuche den Gedanken abzuschütteln und Randstücke zu finden.
Wieso muss das Motiv ausgerechnet ein deutscher Schäferhund sein „ACHTUNG! Nicht für Kinder unter 3 Jahren geeignet. Erstickungsgefahr wegen verschluckbarer Kleinteile.“ Was die nicht sagen. Oder gilt die Warnung dem Hund, er solle keine Kinder unter 3 schlucken? Das Märchen vom Schäferhund und den siebentausend Geißlein.
Okay, die Alte schubst mir hier die Randteile vom Tisch und streckt mir frech ihre belegte Zunge heraus. Was denn, schon wieder Einstein? Ich konnte nicht anders als zu kichern. Aber Mutter, die das ganze beobachtet hat, deutet auf die Sammlung vor ihr – und da liegen die rosa Teile der Hundezunge beisammen. Sie möchte sich also von dort nach außen vorarbeiten. Wie Einstein wohl ein Puzzle gelöst hätte … eher vom Rand nach innen, oder aus der Mitte der Unordnung heraus?

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