„Weiß er denn, wer sie sind?“, wollte ich von ihr wissen.
„Nein“, sagte sie ohne zu zögern und strich sich ihren Pullover glatt. „Manchmal hält er uns allerdings für Gespenster. Alte Frauen hat er an der Front nur gesehen, wenn sie sie vertrieben oder erschlagen haben.“
„Sie meinen, er ist jetzt noch an der Front?“
„Wieder. Die Kriegsgefangenschaft, die Heimkehr – hat er alles vergessen. Alles woran er sich erinnert, ist allein an der Front zu sitzen, weil ihm der Krieg erst seine Kameraden, und dann ihre Namen und die Erinnerung an sie genommen hat.“
„Das klingt wie die Hölle.“
Sie nickte. „Die haben sie sich auch verdient, finden sie nicht?“
„Oh, Verzeihung, ich hab mich noch gar nicht vorgestellt, ich …“ „Sie sind bestimmt der Junge von Helene“, sagte sie und deutete auf meine Haare. „Diesen Haarwirbel kriegt nicht mal eine Mütze gebändigt.“
Ich lächelte. „Johann. Und mit wem habe ich die Ehre?“
„Marlena Jaschke, aber alle nennen mich Marla.“ Sie reichte mir die Hand.
An irgendetwas erinnerte mich der Name. „Und Marla, ab wann erinnerst du dich an nichts mehr?“
Sie lachte herzhaft und sah gleich 10 oder mehr Jahre jünger aus. „Ich leide an einem anderen Fluch, als der Obergefreite hier. An meinem Gedächtnis. Ich erinnere mich an alles. Nicht mit Datum und ob da die Sonne geschienen hat, aber mehr als genug andere Einzelheiten.“
„Und bei dem Herrn Fechner …“ „Fichter“, korrigierte sie mich.
„Herr Fichter kann sich nicht mehr an seine Kameraden erinnern?“
„Nicht mehr“, bestätigte Marla. „Vor ein paar Jahren hätte er noch Geschichten von dem einen oder anderen erzählt, aber auch die haben ihn inzwischen verlassen. Nur der Schützengraben ist ihm geblieben. Im Niemandsland.“
„Als ich neulich da war, da hat er sich erinnert, an Vorgesetzte.“
Lene zuckte mit den Schultern. „Schon möglich. Manchmal blitzt was auf, aber noch schneller ist es wieder weg.“
„Und auf wen warten – wartest du?“
„Den Sensenmann. Der kann angeblich gut Schach spielen. Spielst du Schach?“
„Nicht gut genug, fürchte ich.“