„Mei is des schee, i gfrai mi so.“
„Und ich erst.“ Dann setzte ich ein ernstes Gesicht auf. „Ich glaube wir müssen die beiden vor sich selbst in Schutz nehmen.“
„Des versteh i jetzad ned.“
„Na ja, wenn der alte Speck das spitz kriegt, während sie bei dir sind und ausflippt. Wer weiß, was da alles passieren kann? Bis dahin ist ihr Bauch bestimmt sichtbarer …“
„Mei, was mochma da jetzt?“
„Mir fällt schon was ein, Lukas“, sagte ich und atmete auf. „Ich werd’s ihnen ausreden.“
Nadja brachte uns am letzten Morgen vor dem Frühstück schnell den Refrain von „Ham se nicht noch Altpapier“ bei, um die alten Säcke am Buffet zu erschrecken, entweder mit dem sozialistischen Liedgut, oder der ökologischen Botschaft. Ironie scheint in diesen Kreisen ohnehin unbekannt zu sein. Wie ging das noch? „Klingelingeling und Pionier, ein roter Kamerad steht hier vor dir?“ Ich bekomme es nicht mehr zusammen.
Danach brachten wir Lukas zum Bahnhof, und wir zwinkerten einander zum Abschied konspirativ zu.
„Woast du no, de Tatjana? Aus unserer Klasse? Von der i imma Englisch abgschriem hob?“
„Die Stille aus der ersten Reihe? Ja, wieso?“
„Die ist jetzt Lehrerin bei uns am Gymnasium worn. I hobs beim Treffer troff’n wia’s Semmin kafft hod.“
„Wieso wird man denn freiwillig Lehrer an der eigenen, alten Schule? Wir wollten dort doch nur raus.“
„Mei, und sie is jetzt wieda drinne. Vielleicht hods koa Wahl ned ghobt.“
Die Vorstellung traumatisierte mich mehr als meine Albträume. Oder anders gefragt: Wo war da jetzt eigentlich der Unterschied?
Bevor auch wir Verbliebenen uns wieder voneinander trennten, verriet ich Daniel, dass sein Vater Lukas erst letzten Herbst noch einmal verprügelt hätte, ich ihm das aber auf keinen Fall sagen sollte. Ich meine, einmal mehr oder weniger, da konnte man schon durcheinander kommen, oder? Schäbig habe ich mich deswegen trotzdem gefühlt, aber jetzt sogar unterirdisch. Daniel nahm es geschockt zur Kenntnis, und alles blieb so wie es war.
Vor dem Schlafengehen habe ich mir heute vorgestellt, ich wäre wieder am Gymnasium, wie ich es in Erinnerung habe. Vielleicht ist es ja deshalb so sehr dort verankert, weil es auch meine Welt war, nicht nur die unserer Lehrer. Eine kleine, in sich geschlossene Welt in einer großen, mit eigenen Regeln, die jene der anderen, größeren nur widerspiegelten. Jedes dabei ein verzerrtes Abbild des anderen, je nachdem welches man für das richtige hielt. Ich habe lange gebraucht um zu verstehen, dass beide nicht richtig sind, dass beide nur Zerrbilder einer besseren Gesellschaft sind, die man anstreben muss, und in deren Kern es um Gerechtigkeit geht, eine Utopie, die man nie erreichen, aber dennoch anstreben kann. Und auf der Gegenseite steht der Untergang von allem, dem manche zuarbeiten, ohne es zu merken, und andere willentlich, weil sie glauben es müsse eine endgültige Entscheidung her. Streben nach Veränderung, Evolution zum Wohle aller auf der einen Seite, Status Quo und Tod auf der anderen.
© Jens Prausnitz 2023