Noch einmal zurück, in den Durchgang. Der muss ja dann einmal geschlossen gewesen sein. Was hat man ihm hier entrissen? Was war hier, bevor ein Durchgang daraus wurde? Diese Leerstelle muss der größte Schmerz des ursprünglichen Gebäudes gewesen sein, wie ein glatter Durchschuss des Schulkörpers. Hier muss die Schule einen symbolischen Tod gestorben sein. Jetzt tut sie mir beinahe leid. Fällt dann nicht auch Licht durch so eine Wunde ins Innere? Und tatsächlich, jetzt sehe ich als Elvis die Treppenstufen, und auf dem Absatz nach unten bewegt sich etwas im Dunkeln, ein zweiköpfiges Monster, das zum Sprung ansetzt – und sich weiter schmatzend nicht von der Stelle bewegt? Nein, das … ist nur ein knutschendes Pärchen, und Elvis wachte auf.
Habe ich den Traum jetzt aktiv umgeschrieben? Weil ich bin ja in Wahrheit an der „das Monster setzt zum Sprung an“ Stelle aufgewacht. Aber wahrscheinlicher ist es schon. Wir kannten jede dunkle, nicht einsehbare Ecke. Aus Gründen.
In der Klinik war Schwester Anita stiller als sonst, ständig in Gedanken versunken und es ist gerade richtig angenehm mit ihr zu arbeiten.
Hatte Lukas nicht auch in der siebten Klasse damit angefangen sich einen perfekten Ausbruchsplan aus dem Gymnasium zu überlegen? Wahrscheinlich inspiriert von Flucht von Alcatraz, in dem Clint Eastwood sich hinter einem Poster ins Freie gräbt. An einem Pappmaché-Double von sich selbst hat er sogar im Kunsterziehungsunterricht begonnen, es dann aber zu Hause weiter verfolgt. Weil wir dort zwar an lebensgroßen Figuren arbeiteten, aber aus Holz, zweidimensional wie im alten Ägypten, für einen Maibaum. Sie stellten Gewerbe da, die heute alle am aussterben sind, so tot, wie der angemalte Stamm, an den sie genagelt sind. Mutet auch ein wenig mystifizierend an, beinahe religiös, weil diese Berufe heute keiner mehr ausüben will. Heute müsste dort wohl ein „Influencer“ dabei sein. Da passt die Zweidimensionalität sogar. Wahrscheinlicher ist aber, dass der Maibaum, genau wie seine echten Verwandten auch die letzte Dimension verliert und ausstirbt. Angeblich steht er aber immer noch. Das einzige nach außen sichtbare Ergebnis unserer Schulzeit. Außerdem konnten wir uns kein Motiv ausdenken, wie die Klassen zuvor. Durften die nicht sogar die Betonwände zur Turnhalle bemalen? Die waren aber ausgegangen, und Alternativen gab es genug, nur wurden die nicht in Betracht gezogen, weil man die auch von außen hätte sehen können. Der Maibaum konnten zwar alle sehen, aber es steckte kein eigenes Motiv mehr daran. Wenn man uns die Wahl gelassen hätte, dann wäre uns bestimmt wer zum daran festnageln eingefallen.
Jedenfalls war Lukas lange Zeit wie besessen von dem Gedanken auszubrechen. Die grundsätzliche Schwierigkeit bestand ja nicht im Mangel an Fluchtwegen, die hießen ja tatsächlich so. Zwar eher in Verbindung mit einer Feueralarmübung, aber wenn die Türen schon offen standen, dann damit durch sie ins Freie gelangte. So weit die Theorie. Lukas brauchte kein Feuer als Fluchtursache, die Lehrer allein reichten schon. Das Problem war bereits vor 1989 unbemerkt zu entkommen. Außerhalb des Schulgeländes gesehen zu werden war ein unlösbares Problem, wie von Lava umgeben saß man in der Falle. Bei Tageslicht.