Egal wie oft ich die Jahre durchgehe, wir vier haben uns nur ein einziges Mal nach Vilshofen alle gleichzeitig getroffen. Ich muss es wissen, weil ich der einzige bin, der die Beweisfotos hat. Lukas wollte auch welche machen, aber aus bekannten Gründen blieb sein Apparat leer. Nadja und Daniel haben mir die Abzüge zurück gegeben, als die Zwillinge zur Welt kamen. Alles lief über mich, die Schnittstelle, und ich mag diese Vermittlerrolle nicht länger spielen. Aber wenn ich es nicht tue, wer dann? Wir hätten uns wahrscheinlich endgültig auseinander gelebt, so wie es uns Mädels nach dem Schwesternwohnheim in alle Winde zerstreut hat. Dabei hat es nur mit dem Abstand zu tun. Als könnte man sich nicht mehr spüren, wenn man weiter als was – 10 Kilometer voneinander entfernt lebt? Das gilt ja sogar für Leute in der gleichen Stadt, wenn es stimmt, was Daniel erzählt, dass sie keinen Kontakt mehr mit den ehemaligen Hausbesetzern aus Kreuzberg oder ihren Nachbarn aus Steglitz hätten. Wenn nicht mal eine U-Bahn sie näher zusammen bringen kann, dann muss es doch an noch etwas anderen liegen, oder? Aber woran?
Anfangs haben mich noch alle hier in Aachen besucht, Lukas am häufigsten. Mitte der 90er muss das gewesen sein, da hatte ich diese Wohnung noch gar nicht, sondern lebte zusammen mit ein paar Studenten in einer WG. Dann gingen mir ihre Partys auf den Wecker, oder ich wollte endlich öfter durchschlafen? Ist ja egal, was den Ausschlag gab, aber dann zog ich um, die Besuche wurden weniger, und mit der Jahrtausendwende war es vorbei.
Getroffen haben wir uns jedenfalls in Bad Kissingen. Ich glaube es hatte damit zu tun, dass wir uns in der Mitte treffen wollten, damit es alle ungefähr gleich weit haben. Das hätte dann zwar eher irgendwo in Thüringen sein müssen, aber da wollte Nadja nicht hin, also Suhl’te ich weiter. Die Thermen von Bad Kissingen haben dann alle überzeugt, mich vielleicht weniger, weil ich hab ja welche gleich um die Ecke, aber ich wollte die Suche nicht unnötig verlängern, wo ich schon der einzige Depp war, der die ganzen Vorschläge machte. Also nahmen wir uns dort eine Ferienwohnung für ein paar Tage in der Nebensaison, um in Salzstollen auf den Spuren von Sisi zu wandeln, mit Heilwasser zu gurgeln und Reichen auf die Nerven zu gehen. Und zwar reichlich. Wunden hatten wir inzwischen alle zu pflegen, also was hätte angemessener sein sollen?
Ein Kurort also. Ich glaube, ich habe mich nie wieder im Leben irgendwo so fremd gefühlt, und den anderen ging es glaube ich genauso. Eine aus der Zeit gefallene Künstlichkeit hängt über der Stadt, wie ein Disneyland aus Stein. Aber wenn man lange genug in einer Jakuzzi sitzt, beschwert man sich über gar nichts mehr.
„Wasser ist H-Zwei-O“, begann Daniel, dann vervollständigte ich zusammen mit ihm den Satz, „und Zwillinge sind O-H-Zwei.“
„Was?“ Nadja verstand nur Bahnhof.
„Das hat der Goldhammer immer gesagt“, sagte ich. „Schemielehra“, erklärte Lukas.
„Viel Luft mit einer Prise Knallgas“, vervollständigte Daniel das Bild.
„Ko des sein, das die uns hier alle oschaugn, als war’n mia a Zoo?“ „Das ist hier alles Bühne“, sagte Nadja. „Auch wenn alle in Bademänteln rumlaufen, da laufen immer noch Signale hin und her, die wir nicht wahrnehmen.“
„Wie verschränkte Atome“, warf Daniel ein. „Sie drehen uns gleichzeitig die Rücken zu. Vielleicht hat ihnen auch nur lange niemand ein bisschen Angst gemacht.“ Daniel kraxelte aus dem Luftbläschenbad, balancierte auf den gebogenen Edelstahlrohren der Leiter und stimmte „Eat the rich“ von Motörhead an, ehe er eine Arschbome in unsere Mitte machte.