Eigentlich würde ich gerne herausfinden, wo Rothe wohnt. Wenn ich seine Adresse hätte, könnte ich ihm anonym Post schicken, oder Nadja geben, dann kann sie selber entscheiden, was sie damit macht. Etwas handfestes in der Hand zu haben, wäre besser, als dieses Herumgeeiere. Als wäre das Problem damit gebannt und könnte abgeheftet oder weitergereicht werden, wie der schwarze Peter im Kartenspiel. Aber ich weiß nicht, wie ich es anstellen soll. Ihm auflauern und nachlaufen? Einem Notarzt nachfahren, der mit Blaulicht über die Ampeln prescht? Noch dazu ohne Auto … ich könnte vielleicht mein Fahrrad aus dem Keller holen. Eine Schnapsidee jagt die nächste, und ich bin dafür viel zu nüchtern.
Ich beschloss Mutter einen spontanen Besuch im Altersheim abzustatten, aber sie war zu meiner Überraschung gar nicht da. Erst wollte ich wieder gehen, aber dann sah ich Herrn Fechner in seinem Stuhl sitzen. Dann konnte ich ihm auch „Guten Tag“ sagen.
„Hallo Herr Fechner.“
Er nahm mich gar nicht zur Kenntnis. Erst als ich mit der Hand in sein Sichtfeld winkte, sah er mich an.
„In welchem Lager hast du nochmal gedient?“
„Es war kein Lager, d…“
„Du kannst es ruhig sagen, jetzt hört es doch keiner mehr.“
„Ich war in Vilshofen“, sagte ich, weil er mir ohnehin nicht wirklich zuhörte.
Er runzelte die Stirn. „Daran erinnere ich mich gar nicht. In Bayern sagst du? Wohl ein Außenlager, vor Kriegsende, nicht wahr?“ Ich nickte einfach. „Du bist ja auch noch so jung …“ Er seufzte. „Die in Polen, die haben es im Grunde einfacher gehabt.“
„Bitte was?“
„Die kriegten die ganzen Ausländer, da verstand man wenigstens nichts. Unsere sprachen alle Deutsch, und das fehlerfrei. Ehrlich gesagt besser als wir. Da waren auch Lehrer dabei.“
Erst da traf es mich. Ich hatte auch in einem bewachten Lager gearbeitet, ohne Gewehr zwar, aber so rein verwaltungstechnisch? Wie weit ist es von der guten Absicht zum Handlanger beim organisierten Mord? Wenn du nur lernen musst deine Nachbarn von gestern mit anderen Augen zu sehen – was nicht so schwer fällt, wenn man nicht im Treppenhaus voreinander steht, sondern sich auf freiem Feld begegnet? Was dann?
„Lehrer, Lehrer …“, wiederholte er. „Unseren Deutschlehrer haben sie abgeholt, weil er mit uns ein Kästner Gedicht durchgenommen hat. Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn? So hat es geheißen, und weg war er.“
„Können Sie es denn noch?“
Fechner schüttelte den Kopf. „Aber ein paar Zeilen sind hängen geblieben. Erstens steht der Verstand stramm und zweitens still, oder so ähnlich. Und befördert wird wer die Schnauze hält. Das hat er schon richtig beobachtet, der Kästner. Ich hätte besser mal nichts sagen sollen, aber dann saß ich schon im nächsten Zug an die Front. Das war aber immer noch besser, als …“ Er verstummte und sah mich fragend an. „Hast nichts gesagt?“ Ich schüttelte den Kopf. „Gut für dich.“ Er tätschelte mir die Schulter und ließ seine Hand dort liegen. „Gut für dich. Und jetzt duck dich, bevor dir der Iwan einen Scheitel schießt.“