15.02.20

Ich setzte mich. Fechner war wieder weg, zurück in einem seiner Schützengräben. Strafversetzt an die Front, wenn ich das eben richtig verstanden habe. Er hat aber eben auch erlebt, wie zuerst Leute aus ihrer Mitte verschwunden sind. Es wussten eben doch alle, wohin die kamen. Lange bevor angeblich zurückgeschossen wurde, hatte man das mit dem Schießen längst verinnerlicht, oder mindestens das mit dem Weggucken.
Mit der Schule hatten wir das KZ Flossenbürg in der Oberpfalz besucht. Das war nur ein Tagesausflug gewesen, der mehr Stunden Busfahrt beinhaltete, als dann Aufenthalt in der Gedenkstätte. Nicht dass es viel Zeit gebraucht hätte, um einen am Boden zerstört zurück zu lassen. Und wer davon unberührt blieb, dem hätte auch ein Übernachtung dort nicht geholfen. Es sei denn, es würde dort so spuken, wie im Kopf vom Herrn Fechner.
Damit war alles abgehakt, „nie wieder“ Nazionalsozialismus … in der Schule durchnehmen müssen.
Auch nicht besser als die „Entnazifizierung“, von der wir in der Schule gehört haben. Da war den Alliierten nach den ersten großen Namen nämlich bald die Puste ausgegangen, wie den überführten Beschuldigten am Strick. Das so viele Helfer und Helfershelfer mit heiler Haut davon kamen, weil sie einander gegenseitig Persilscheine ausstellten, konnten mit ein bisschen Bürokratie jede Menge Akten zurück in die Archive wandern. Potzblitz. So kommen sie also immer ungeschoren davon, die Mitläufer und Wegseher, die Fluchtwegversperrer und Zuhausebleiber. Erst mal abwarten und Tee trinken, während man dem Haus gegenüber beim Brennen zusieht. Was für ein Schauspiel! Du bei den Rosenthals wird demnächst was frei.
Nein, die Leute waren nicht doof, sondern haben genau aufgepasst. Die Oben wurden geköpft. Die vielen, die mitgemacht und ein bisschen mitgemordet haben, wurden jeden Tag ein bisschen mehr ignoriert. Das ist wie Ameisen verscheuchen. Wo sich der Haufen verbirgt, aus dem sie alle herkommen, willst du lieber gar nicht mehr wissen. Man beobachtet das jeden Tag im Kleinen, erträgt es ernst zähneknirschend, dann gewöhnt man sich daran, bis es einem von Tag zu Tag leichter fällt.
War es am Ende der DDR nicht ähnlich? Was ist aus den DDR Profiteuren von damals geworden, wenn nicht ein Funktionär von morgen? Ein ähnlicher Erfolg wie die Denazifizierung. Die Unterlagen kannst du einsehen, deine Akte lesen, aber deswegen kommst du den Autoren noch lange nicht auf die Schliche.
Die Schweine fallen einfach auf immer neue oder sogar die gleichen Posten, die Richter, Anwälte, Polizisten, Lehrer – eben war noch das halbe Land bei der Stasi oder den Nationalsozialisten, jetzt sind plötzlich alle lupenreine Demokraten oder aktive Bürgerrechtler. Schon wieder. Wahrscheinlich hat sich damit auch gleich die ganze Erinnerungskultur ausgelöscht, denn Minus mal Minus ergibt Plus.

Wobei … einen Unterschied gibt es. Das Wort Sozialismus ist per se böse. So ähnlich wie Nationalsozialismus, nur dass das nicht analog für das Wort national gilt. Das ist ein Beißreflex der Konservativen für jede Idee, wo jemand was geschenkt bekommt. Freiheit zum Beispiel, dank Kitas und erlaubter Abtreibung.
Die Deutungshoheit liegt seit jeher bei der Boulevard-Presse. Springer war schon immer der ausgestreckte rechte Arm der Konservativen, oder doch eher umgekehrt? Wahrscheinlich beides. Mehr als eine Armlänge Abstand war dazwischen nie. Wer in Deutschland wirklich nach links will, muss dreimal rechts abbiegen.

© Jens Prausnitz 2023

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