10.01.20

„Ehrlich gesagt kommen mir mit den Jahren immer mehr Zweifel an der Geschichte.“ Sie sah mir direkt in die Augen. „Wieso hat er nicht länger nach ihr gesucht?“ Ihre Stimme wurde brüchig. „Warum mussten wir so plötzlich aus Zwiesel wegziehen? Wie hätte sie uns finden sollen, wenn sie zurück kam? Warum ist er jedem Gespräch über sie ausgewichen?“
Ich schluckte.
Mutter nahm ihr leeres Glas und schwenkte es in Richtung Theke hin und her, wartete kurz, hob das Kinn, nickte nach einem Moment und stellte es wieder ab. „Du bist nicht der einzige hier am Tisch, der Nachforschungen angestellt hat. Nur ist bei Familien nichts auch nur halb so gut dokumentiert, wie bei Soldaten.“
„Warum hast du mir das nie erzählt?“
„Ach, Junge.“ Sie sah zur Decke uns atmete tief ein. „Weil es zu spät ist und keine Antworten mehr darauf gibt.“
„Warum sagst du so was?“, platzte es aus mir heraus. „Wann warst du zuletzt in Zwiesel? Du könntest …“
„Im Winter 89. Als klar war, dass wir weg ziehen“, sagte sie an ihren leeren Teller gerichtet. Der Kellner brachte Mutter ein neues Weinglas, und ich bestellte noch ein Bier.
„Ach … die Fortbildung?“
Sie nickte. „Mit Betonung auf fort. Ich weiß noch, dass ich erwartet hatte dort bis zur Hüfte im Schnee zu stehen, aber stattdessen war es warm und windig. Für Dezember.“
„Seit damals trägst du das schon mit dir herum?“
„Du etwa nicht? Jeder trägt sein Päckchen auf seine Weise.“
„Ja, und manche erfrieren dabei in ihren Schützengräben.“ Ich lehnte mich zurück. „Wenn wir die nicht verlassen, so lange wir dazu noch in der Lage sind, wird man uns darin beerdigen.“
„Junge, Junge, da kommst du einmal mit, und schon philosophierst du über die Lebensgeschichten anderer.“ Mutter drehte sich zur Seite, streckte ihre Füße aus und massierte sich die Unterschenkel.
„Lenk nicht ab.“
„Ein andermal bitte. Es ist mir heute zu spät um auch noch dieses Fass auf zu machen.“ Sie nahm einen Schluck Wein und schüttelte ihre Beine aus. „Ich bin echt erledigt heute.“

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