In der Klinik hatte es ein Nachspiel gegeben. Der Kerl kam mittags wieder und ist ausgetickt, als man ihn nicht zu Frau und Kind durchgelassen hat. Zum Glück ist niemandem was passiert, ein Blumentopf ist kaputt gegangen, den er gegen die Stationstür geschleudert hat, und die Scheibe ist gesprungen, aber die Sicherheitsfolie hat gehalten. Jetzt ist er in Polizeigewahrsam und wir haben wenigstens 48 Stunden Ruhe vor ihm. Genug, um seine Familie in Sicherheit zu bringen. Wo kommen nur diese Männer her?
Damit nicht noch in den letzten Tagen vor Daniel’s Flucht etwas dazwischen kam, nahm Lukas die Schuld an der Hochsprungmatte auf sich. Goldhammer hatte ihn ja eh im Verdacht gehabt, wie alle, deren Haare über die Ohren wuchsen. Lukas hatte es zunächst wahrheitsgemäß abgestritten, weil er war ja zu der Zeit drinnen gewesen.
„Aber dein Auto ist gesehen worden!“ Hatte Goldhammer gebrüllt. „Damit kim i doch jeden Tag zur Schui, so wie sie a!“
Da wurde es ganz leise. „Vergleich dich nie wieder mit mir.“
Und dann ging es wieder von vorne los.
Niemand hatte Nadine mit dem Benzinkanister gesehen. Oder sich nichts dabei gedacht. Was… unwahrscheinlich ist. Ich meine, ich rede von Vilshofen, nicht Berlin Kreuzberg oder was weiß ich, Hamburg Hafenstraße. Oder einer Tankstelle. Sie war unsichtbar gewesen, aber nicht für uns, nicht einmal Wochen später. Für uns war sie immer noch da. Jede Runde, die wir im Sportunterricht über den Platz drehen mussten, zum Warmlaufen, sahen wir die Rußrückstände am Tatort und das Absperrband drumherum, als könne man sich noch immer daran entzünden, wenn man zu nahe heran trat. Selbst wenn wir in der Halle liefen, warfen wir aus den Türen in den Ecken verstohlene Blicke darauf, als könnten wir sie dort noch immer hocken sehen. Wir stellten uns vor, wie sie die Matte mit Benzin vollschüttete und dann die brennende Streichholzschachtel drauf schmiss. Wie gerne das jeder von uns selbst getan hätte, wenn wir nur mutig genug gewesen wären.
Aber es war ausgerechnet Lukas, der jetzt log. Für jeden, der ihn kannte gut sichtbar. Wahrscheinlich sah es sogar Goldhammer selbst. Doch sein Glück endlich eines Schuldigen habhaft zu werden, überwog klar. Schuldig war er für ihn schon vorher gewesen, da kam also selbst ein falsches Geständnis gerade recht. Uns andere würde er auch noch dran kriegen, ganz sicher. Egal für was. Und so kassierte Lukas die Strafe, nahm den Überführungsdruck, der permanent auf uns lag lange genug heraus, um Daniel die Flucht zu ermöglichen. Mag sein, das Goldhammer danach Zweifel kamen, aber im Grunde war auch das nichts weiter, als ein weiteres Schuldeingeständnis, das er schon vor Jahren hatte kommen sehen, bei Daniel’s Einschulung ans Gymnasium.
Danach sammelte ich Geld für Lukas um den entstandenen Schaden zu reparieren und neue Sprungmatten anzuschaffen. Alles in allem eine erschreckend teure Angelegenheit, die Summe habe ich inzwischen vergessen, aber nicht die Jahre, die es brauchte, um den Kredit abzustottern, den er dafür aufnehmen musste. Und das obwohl allein die Taschengeldspenden der Schüler weit über 1000 Mark zusammen gebracht hatten. So hat er dann doch für Daniel und Nadine einen Kredit aufgenommen, nur anders, als er sich das vorgestellt hatte.
Und wer weiß? Vielleicht hat es dieses Opfer tatsächlich gebraucht. Es hätte alles anders ausgehen können, die Aufmerksamkeit wäre nicht auf Lukas gelenkt gewesen, sondern hätte womöglich Fehler in unserem Plan entblößt, von denen wir gar nicht wussten, dass es sie überhaupt gab. Wer weiß wozu es am Ende gut war, und es hat niemandem von uns geschadet. Also nur finanziell und das war es uns wert.