08. November 2019 – Nachtschicht

„Aber dann… dann können wir uns nicht verabschieden.“
„Doch scho. Vorher hoid.“
Ich schüttelte vehement den Kopf. „Nein! Ich muss wissen, dass er
in den Zug gestiegen ist. Und ich muss wissen, dass der Zug Vilshofen verlassen hat. Mit eigenen Augen muss ich das sehen.“
„Des is koa guade…“
„Wenn ich das nicht sehe, und dann nie wieder was von ihm höre, wer weiß warum, dann, dann…“ Ich lehnte mich zurück, schob mich samt Stuhl vom Tisch weg und vergrub meinen Kopf über den Knien.
„Eha.“ Geistler klopfte mir mit der flachen Hand auf den Rücken. „Des wird schwierig. Schwierig, aber ned unmöglich.“
Tatsächlich kam er auf einen Plan, oder wir mit seiner Hilfe. So oder so hatten wir in ihm jetzt einen Mitwisser und Komplizen, der uns dann eben doch das rettende Alibi gab. Das war sicher nicht die beste Idee gewesen, genauso wenig wie Lukas’ Geständnis, aber eben vielleicht auch eine weitere Bedingung für die gelungene Flucht. Denn so genial wie wir damals dachten, war natürlich auch dieser Plan nicht. Aber er gab uns Sicherheit. Ein gutes Gefühl. Mehr Aberglaube und Wunschdenken, mit Schmetterlings-Defekt.
Ob es für die Rothes so ähnlich gewesen war, ihre Flucht aus der DDR? Uns beobachtete zwar nicht die Stasi, aber eben alle anderen. Mitschüler und Lehrer in der Schule, Nachbarn und selbsternannte Ordnungshüter davor. Wir konnten uns niemandem anvertrauen, wenn man vom Geistler absah, und schon das war nicht die beste Idee gewesen. Wir konnten nirgendwo hin, mussten uns außerdem in der Schule sehen lassen, weil wir ja keine Pappkameraden an unsere Stelle in die Klasse setzen konnten. Wir mussten unsichtbar werden, und das einmal innerhalb, und dann noch einmal außerhalb der Schule.
Draußen war es eigentlich nicht so schwer, denn es genügte, wenn wir uns umzogen, wie Superman in der Telefonzelle, wenn er sich in Clark Kent verwandelte. Nicht gerade mit Brille und Anzug, aber die Haare ordentlich unter eine Mütze, den Kragen höher gestellt, und niemand drehte mehr den Kopf nach einem um. Wir hatten sogar Schließfächer in der Schule und eine Toilette in der Nähe, die man dafür hätte nutzen können!
Aber selbst das war zu riskant, Schüler aus Parallelklassen oder anderen Jahrgangsstufen konnten einen immer noch dabei beobachten und sich erinnern. Aber in der Nähe der Schule musste es passieren. Nur Daniel durfte man natürlich erkennen. Und wenn er sogar die Aufmerksamkeit auf sich zog, jedenfalls bevor er zum Bahnhof kam, dann konnten wir vielleicht unbemerkt in die andere Richtung entkommen.
So weit, so gut, aber wie sollten wir aus der Schule kommen? Man konnte auf’s Klo, aber nicht eine Schulstunde lang, oder anderthalb. Das konnten nur… Klassensprecher, die auf ein Versammlung mussten, oder Sportler, die mit ihrer Mannschaft wohin fuhren, aber in beiden Fällen war man ja auch immer unter Aufsicht.
Und wenn wir logen, würde es auffliegen, wenn jemand nachhakte. Also… musste ein externer Grund her? Ins Sekretariat gerufen werden, weil ein dringender Anruf kommt. Meine Mutter, weil sie den Herd nicht ausgemacht hat. Das würde zur Not gehen, aber ich wohnte so nah an der Schule, das alles über einer halben Stunde schon wieder zu lange dauerte. Das reichte nicht. Aber wenn Lukas’ Mutter – aber nein, er wohnte ja nicht mehr Zuhause. Und wenn sein kleiner Bruder Fieber hätte, und aus dem Kindergarten abgeholt werden müsste oder sowas? Das ging vielleicht. Seinen Bruder Markus könnten wir ja einweihen. Außerdem konnte er dann sein Auto nehmen, und niemand würde sich wundern… Wir drehten uns so lange um immer neu auftauchende Probleme, dass wir dann bei der erstbesten Lösung blieben, die auf den ersten Blick halbwegs realistisch erschien. Alles andere hätte uns auch nur noch nervöser gemacht.

© Jens Prausnitz 2022

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