„Du kannst dich natürlich hoch arbeiten, aber das ist ein Vollzeitjob, während die Jahrzehnte Vorsprung haben. Und es macht etwas mit einem, wenn man ständig besser sein muss, die Ellbogen einsetzt und zusehen muss, wie sich andere abmühen. Es wird ein ich gegen die, und du kannst es schaffen, wenn du an dich glaubst und entsprechende Prioritäten setzt. Aber man vergisst nie, was man zurückgelassen hat, oder wen …“ Heßler brach ab und sah zur Seite.
Ich wollte schon nachfragen, ließ es aber bleiben. Das rührte gerade an etwas, das ich bei ihm noch nie erleben durfte. Etwas persönliches.
Und Recht hatte er. Spätestens das Gymnasium fühlt sich nach einem Gefängnis an. Wenn du als kleines Kind in die fünfte Klasse kommst, dann aber am anderen Ende des Gebäudes Erwachsene siehst, die keine Lehrer sind, sondern selbst noch Schüler? Was anderes könnte man denken außer: ich bin hier lebenslänglich! Aber für was? Was hatten wir denn getan, dass wir noch neun Jahre sitzen mussten? Oder wem? Wann? Hatte der Weihnachtsmann Einblick in meine Akte gewährt, und jetzt war ich eben doch für die versehentlich eingeworfene Fensterscheibe von 1976 dran? Wie viel gab es für den aufgegessenen, harten schwarzen Popel, der so schön zwischen den Zähnen geknirscht hatte? Ein Jahr?
Schule ist ein Konzentrat der Gesellschaft, als gräßlich verzerrte Wirklichkeit, deren Struktur sich uns stärker einprägt, als alles andere, womit wir später konfrontiert werden. Niemand denkt hier „outside the box“, die Schachtel ist in uns, ein Teil von uns geworden, mit uns verschmolzen, erstarrte Lava, in 13+ Jahren ist alles erkaltet, unter der Oberfläche glimmt keine Glut mehr, für nichts. Wir erinnern uns nicht mehr. Wenn jemanden ein Hobby oder sogar zwei geblieben sind, können sie sich glücklich schätzen. Vielleicht durften sie es mal in der Schule vorführen, wie Kunststücke im Zoo. Nicht mal wie in einem Zirkus, denn der wäre ja beweglich.
Zirkus … ach Daniel, warum haben wir das damals nicht gemacht?
„Willst du vielleicht darüber reden?“, fragte ich Dr. Heßler, nachdem wir länger nur dagesessen, und unseren Gedanken nachgehangen waren.
Er lächelte. „Ein andermal vielleicht.“
Wir verabschiedeten uns, aber als er sich zum Gehen wandte, sagte ich: „Und nur der Vollständigkeit halber: die sind Größe 45, nicht Medium.“ Dann machte ich mich in meinen Hausschuhen auf den Heimweg.