„Bei uns wird Alten noch mit mehr Respekt begegnet, als hier“, sagte Walentyna nachdenklich.
„Die waren auch keine Nazis“, entgegnete ich. „Das macht es bei uns etwas schwierig. In den seltensten Fällen wissen wir, was sie im Krieg gemacht haben, oder wo sie überhaupt waren.“
„So habe ich das noch gar nicht gesehen.“
„Wie wir mir unseren Alten umgehen ist genauso verwerflich, wie mit unseren Kindern“, stellte ich fest. „Die einen schieben wir in die Schule ab, die anderen ins Altenheim.“
„Schade, dass man sie nicht zusammen bringt.“
„Wie jetzt, um Platz zu sparen?“, fragte ich sarkastisch. „Oder damit sie gemeinsam demonstrieren oder eine Gewerkschaft gründen? Die einen noch nicht erwachsen, die anderen bereits entmündigt.“
„Nein“, sagte sie, „sondern weil ein Altenheim auch nichts anderes ist als eine Bibliothek. Beides verstaubt, wenn man es nicht pflegt. Jeder Band ist voller Wissen, wenn man ihn aufschlägt, und manchmal wünscht man sich hinterher, man hätte es nicht, oder schon viel früher getan.“
„So habe ich das noch nie gesehen.“
„Dann warst du in beiden zu selten.“
„Ach? Wann warst du denn zuletzt im Altersheim?“
„Sonntag.“
„Verwandtschaft?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich lese vor, was sie sich wünschen. Oft Bücher, an die sie sich noch erinnern können, meistens aus ihrer Kindheit.“
„Wird dir das nicht langweilig?“ So wie sie mich anguckte, schob ich schnell hinterher: „Ich meine, hast du die meisten davon nicht schon gelesen?“
„Tatsächlich nein. Es gibt so viele alte Bücher, von denen wir noch nie etwas gehört haben, jenseits der üblichen Klassiker. Oft gar nicht so leicht zu bekommen, manchmal nur über ein Antiquariat. Außerdem frage ich sie zwischendurch auch aus.“
„Damit sie nicht einschlafen? Au!“
„Ich bitte sie mir davon zu erzählen, wie das war, diese Bücher zu ihrer Zeit zu lesen, nicht heute. Das ist etwas völlig anderes. Das flößt mir so viel Respekt ein, vor der Vergänglichkeit, den Autorinnen, die sich gegen die Zeit stemmen, ihr voraus waren und sind. Jedes Buch wächst für mich daran. Früher habe ich so vieles überlesen, obwohl ich es vor der Nase hatte.“