23.06.20

Mama hat manchmal auf ihrer Seite der Straße so getan, als würde sie ein Wettrennen mit einem Rollstuhlfahrer auf der anderen Seite machen. Sie schob einen der Rentner, das Mädel auf der anderen Seite fuhr selber. Das war toll, bis ein Pädagoge oder Elternteil eingriff. Dabei hatten die Alten offensichtlich Spaß daran, genau wie die Kinder. Die Chancen waren auch in etwa gleich verteilt, und das Rennen ist an sich genauso sinnlos wie ein Sprint bei den Bundesjugendspielen – dafür aber nachhaltiger.
Wieso habe ich wohl meine ganze Schulzeit lang kein Kind im Rollstuhl bei uns am Gymnasium gesehen? Nur weil es nicht am Sportunterricht hätte teilnehmen können? Und selbst das stimmt ja nicht einmal. War bei uns körperliche Behinderung schon Grund genug gewesen nicht ans Gymnasium zu kommen? Oder nur nicht an unseres, weil es noch nicht behindertengerecht eingerichtet war? Wahrscheinlich ja. Mit uns „konfessionell Behinderten“ wurde ja ähnlich verfahren. Wenn es nicht genug gab, wurde man woanders „konzentriert zusammengeführt“. Die Rollstuhlfahrer landeten wahrscheinlich so ähnlich in einem Passauer Gymnasium, und so war unseres eben rollstuhlfrei. Von der Auslese hatte man gar nichts mitbekommen. Dabei sah man es dem Gebäude an, es fehlten ihm die Rampen und Aufzüge, die eigenen Toiletten.

Wo beginnt eigentlich diese Segregation? Das im Grunde faschistoide Denken? Nein, nicht beim Übertritt ans Gymnasium. Sondern da, wo Menschen mit Behinderung aussortiert werden, und wir nennen das tatsächlich „Förderung“, damit wir kein schlechtes Gewissen kriegen, wenn wir die Ungewollten aussortieren. An der Grundschule. Ist doch so. Es reicht sich vorzustellen was los wäre, wenn zum Beispiel ein blindes Kind in eine Klasse mit „normalen“ Kindern gehen soll. Der Shitstorm der Eltern würde nicht lange auf sich warten lassen. Nichts gegen das Kind, aber das könnte die Klasse zurück halten, und wenn unser Bub dann nicht ans Gymnasium wechselt … und es wäre auch besser für das Kind. Es könnte sich ja weh tun. Zum Beispiel wenn es von deren Bub die Treppe runtergeschubst wird, weil es besser kopfrechnen kann. Da fühlt sich der arme Bub plötzlich benachteiligt, gell? Und ist das blinde Kind weg, verbessert sich wie durch ein Wunder das Ranking des Schubsers, der obendrein lernt, dass schubsen tatsächlich was bringt.
Alternativ würde man womöglich gegenseitige Rücksichtsnahme lernen, Solidarität, und Blindenschrift. Ja, aber wozu braucht man das denn? Um sich in dunklen Zeiten wie diesen besser orientieren zu können – das wär doch schon was, oder? Viele wären überrascht, was Sehende alles von Blinden lernen könnten, das Bildung und Wissen keine Einbahnstraßen sind. Dafür ist Ableismus eine, und wir wurden um zusätzliche Perspektiven betrogen. Weil wir sie gar nicht erst sehen. So funktioniert das. Genau wie die Schlachtung von Schweinen ja auch, womit sich der Kreis schließt. Du isst was auf deinen Teller kommt. So lange ist es noch gar nicht her, dass es in Meinkofen Giftspritzen gab.
Was sind denn Menschen ohne Behinderung? Vor allem Leute, denen ihre eigene Glückssträhne nicht mal bewusst ist. Jeder Brillenträger ist schon ein Mensch mit Behinderung. Kommt auf einen jeden zu, spätestens mit dem Alter: Augen, Ohren, Kreuzschmerzen. Irgendwas ist immer. Allergien. Brüche. Verstauchungen. Geht ja wieder weg? Nicht bei allen. Vor allem die geistige Umsetzung einiger hält sich hartnäckig, und die ist nicht mal von außen zu sehen.

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