22.05.20

„In der Zwischenzeit könntest du mir ein Stück von dem angeschnittenen Kuchen anbieten, oder wolltest du den alleine essen?“ „Was? Ach so, ja, Augenblick.“ Ich stolperte wie ein Fremder durch meine Küche auf der Suche nach geeignetem Besteck. Währenddessen hörte ich ihre Stimme hinter der Couch murmeln.
„King, Palahniuk … okay. Aber bitte was, Houellebecq? Ernsthaft?“
„Haben damals alle gelesen, und ich fand’s nicht so schlecht“, rief ich schnell. „Also bis auf die Sexszenen.“
Die Möglichkeit einer Insel geht ja noch. Hast du eigentlich inzwischen Oryx gelesen?“
„Nein, wegen der Pandemie … du verstehst schon, oder? Aber ich mag die Atwood sehr. Fast so wie Le Guin.“
Sie stand auf und stellte den Tee ab. „Komm, lass uns gehen.“ „Und der Kuchen?“
„Kann bis hinterher warten.“
Im Park zeigte ich Walentyna die Tafel, wo einmal das Haus stand, in dem sich Anne Frank ein halbes Jahr lang versteckt hatte.
„Schade, dass man so leicht dran vorbei laufen kann“, kommentierte sie.
„Man hätte die Tafel senkrecht aufstellen sollen. Wenn sie so liegend präsentiert werden, zeigt das auch die Ohnmacht unserer Erinnerungskultur. Hat immer was von gerade umgekippt.“
„Den Ball immer schön flach halten. Und Bücher aussortieren.“ „Ist ja gut jetzt, es tut mir leid. Mea Culpa.“
„Ich dachte du wärst evangelisch?“
„Schon, aber trotzdem in Bayern aufgewachsen.“
„Kintsugi“, sagte sie.
„Was?“
„Kennst du das? Wenn in Japan was zu Bruch geht, und sie die Scherben wieder zusammensetzen, aber nicht indem man die Bruchstellen dabei unsichtbar macht, sondern im Gegenteil noch hervorhebt? Mit Gold? So wird es zum kostbaren Einzelstück. Kintsugi.“, erklärte Walentyna.
„Wie kommst du darauf?“
„Ach, eher so grundsätzlich. Die Schäden des Lebens annehmen, weißt du? Das Beste daraus machen, versuchen etwas zu reparieren, selbst wenn es zerbrochen ist.“
Ich nickte und dachte darüber nach. Das erinnert mich an die Schweißbänder, wie ich sie früher einmal an den Handgelenken getragen habe, als die Narben noch sehr sichtbar und rot waren. Aber dabei ging es mir ja um das Verstecken, nicht das Hervorheben.

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