21.07.20

„Ehrlich gesagt weiß ich es selber nicht“, sagte Nadja. „Ich glaube, ich bin noch nicht so weit. Mutter war dagegen einfach, aber er?
„Vielleicht sprichst du erst einmal mit ihr darüber“, schlug ich vor und war von mir selbst überrascht. Wo kam denn das her?
„Gute Idee.“
Wir standen auf und gingen endlich zu den anderen zurück.
„Mein Vater hat mir erzählt, dass Seefahrer anfingen sich an den Sternen zu orientieren“, sagte Nadja noch. „Aber das ist falsch, wenn du mich fragst. Es waren die wartenden Frauen am Ufer, denen auffiel, dass sich die Sterne zur Uferlinie verschoben. Aber auf dem Meer? Ohne Bezugspunkt? Da kannst du dir nie sicher sein.“

Mir war keine Antwort darauf eingefallen, aber es brauchte gar keine. Was mich noch beschäftigte war dunkle Materie, die doch angeblich das Universum zusammenhält. Ist sie nicht der Beobachter, der hinsieht und dadurch die Position der Sterne bestimmt? Ein Beobachter, der sie alle auf einmal sieht, gleichzeitig, ohne je müde zu werden …
Wir sollten dort gar nicht so genau hinsehen, ins Dunkel. Weil sich unsere Augen daran gewöhnen werden, an diesen Blick ins Nichts. Ermessen können wie sie nicht, nur ausrechnen. Blickt man länger in die Dunkelheit, dann taucht alles daraus langsam wieder auf: Die Ödnis der ewig gleichen Tage in der Schule, der schleichende Tod, die Monotonie, die Rituale, die Ohnmacht und Tränen einer Kindheit und Jugend in Niederbayern, oder irgendwo sonst in Bayern, in Deutschland, der Welt.
An den Sternen müssen wir uns orientieren, nicht dem Schwarz dazwischen, am Glück, am Licht. Alle diese Erinnerungen sind mein Universum, meine Galaxie, mein Sonnensystem. Wir sehen aus der Ferne nur noch die Sterne, ihr Leuchten in der Dunkelheit. Die Schwärze brauchen wir nur als Kontrast, damit uns das Licht nicht zu sehr blendet, und je weiter man weg ist, desto schöner sieht es aus, und kommt man ihm zu nah, verbrennt man an seiner Sonne, wie ich oder Ikarus.

Ich hoffe es rächt sich nicht noch, dass ich die Familie zusammengeführt habe. Was, wenn wir uns dort alle mit diesem Drecksvirus angesteckt haben? Dann trage ich die Schuld daran. Wir waren zwar viel draußen, aber was wissen wir schon? Es braucht nicht viel. Es hätte einer unter uns oder den anderen Gästen genügt um alle anzustecken. Asymptomatisch, aber hochansteckend. Das könnte ich mir nie verzeihen.

© Jens Prausnitz 2023

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