Familie ist so ein kaputtes, überholtes Konzept, das funktioniert doch hinten und vorne nicht! Mein Leben lang sehe ich kaputte Familien, erst meine eigene, dann die meiner Freunde, heute die der kleinen Patienten in der Klinik – das muss doch auch anders gehen? Und so schlecht haben wir es doch gar nicht vorgelebt. Aber auf den Berliner Spielplätzen fällt das leichter, als unter der Lupe einer Kleinstadt wie Vilshofen, oder erst recht auf dem Land.
Die Kinder müssen ins Zentrum unseres Handelns. Bei allem, und nicht nur die eigenen. Nicht nur an ihrem Geburtstag. Ihre Ängste müssen wir ernst nehmen, so wie wir uns gewünscht hätten, dass unsere eigenen damals hätten ernstgenommen werden sollen, wie das das Waldsterben, oder den sauren Regen … und niemand hat etwas getan.
Moment, das stimmt ja gar nicht: Daniel hat etwas getan! Wie konnte ich das nur vergessen? Er hat Unterschriften gesammelt, auf dem Stadtplatz in Vilshofen. Und wir haben ihm geholfen, ich und Lukas. Die hat er dann dem Bundeskanzler geschickt. Oder wie war das noch? Himmel, Daniel war wie Greta, unsere Severn Suzuki in den frühen 80er Jahren, und niemand hat es mitbekommen. Unsere Ängste waren im Grunde schon damals die gleichen wie die unserer Kinder heute.
Schwester Anita hat uns heute ihre Erkenntnisse vermittelt. Manches ist rein hypothetisch, wie das Umbetten von beatmeten Patienten. Unsere sind in der Regel nicht so schwer, aber dennoch empfiehlt es sich das zu mehreren zu machen. Vor allem sei die Bauchlage günstig. Und selbst, wenn man das meiste schon vorher wusste, ist es ein gutes Gefühl zu wissen, dass man inzwischen wohl auf das Schlimmste vorbereitet ist.
Wir hätten damals auch schon gerne mit 13 demonstriert, nur haben unsere Eltern uns das nicht erlaubt. Wohlgemerkt die gleichen, die uns die ganzen 70er über den ganzen Tag alleine auf der Straße spielen ließen. Mitgekommen wären sie erst recht nicht.
Daniel und ich waren beide Einzelkind, die gefühlte Gefahr vor Wasserwerfern und Pfefferspray einfach zu groß, die empfundene Bequemlichkeit noch größer. Außerdem sah man es ja im Fernsehen, da waren Chaoten dabei, die Steine schmissen, das war zu gefährlich, zu weit weg, Zeitverschwendung. Meine Mutter hätte uns bestimmt begleitet, aber die musste immer arbeiten, da blieb für Tagesausflüge keine Zeit. Als Daniel es seiner Mutter vorschlug, schallerte ihm der Vater eine. Wir saßen fest.
Nicht einmal Leserbriefe in unserem Namen wollten sie schreiben, aber meine Mutter bot immerhin an unsere zu korrigieren und in der Arbeit abzutippen. Nur an wen sollten wir die schreiben? Wir selber lasen ja nichts. Außer vielleicht der Micky Maus, und da gab es zwischen selbstgemalten Bildern in der Maus Box auch Leserbriefe, aber wen konnte man damit schon erreichen?
„Wir müssen die ganz oben ansprechen“, stellte Daniel fest.