Schwester Anita dreht gerade eine Runde, und ich denke darüber nach, ob eventuell gar nicht die Kulturschaffenden in der Krise stecken, sondern wir, die Hörer, Leser und Zuschauer. Laut Daniel war schon vor Corona die Veranstaltungsbranche in einer Krise, weil das Publikum nur noch zu den großen Dingern strebt, den Sommerfestivals und Events, aber nicht zum Clubgig um die Ecke. So erging es ja schon den beiden Rudis damals mit dem Maximal in Vilshofen. Die Nachfrage nach Konzerten war da, die gebuchten Bands auch, nur ließen sich dann trotzdem chronisch zu wenige Leute blicken. So kam und ging der einzige Liveclub der Stadt.
Seit den 2000er Jahren warte ich auf ein Erdbeben in der Rockmusik, wie es Grunge Anfang der 90er war, als würde das alle Probleme auf einen Schlag lösen. Stattdessen klingt alles wie schon mehrmals da gewesen. Langsam dämmert mir, dass vielleicht diese Erwartung falsch ist. Heute kann jeder Musik machen, ohne ein Instrument spielen zu können. Das ist wie die Umkehrung des Punk-Prinzips Ende der 70er, als im Prinzip jeder aus dem Publikum die Songs genauso schlecht auf der Bühne bringen könnte, wie die Bands selber, und jetzt klingt alles am Rechner zusammengeschraubte so glatt wie aus dem Studio.
Vielleicht steckt dieses neue „Rock-Erdbeben“ auch gar nicht mehr in den Songs selber? Gefühlt macht heute jeder was mit Medien, und genauso individualisiert sich der Kontakt mit dem Publikum. Alle begegnen einander auf YouTube, und das meine ich gar nicht negativ. Ich meine, ich spiele wieder Schlagzeug und hab dort die besten Lehrer auf der ganzen Welt, deren Lektionen ich zu jeder Zeit abrufen kann – es entfällt die Notwendigkeit der Gleichzeitigkeit. Meint Heßler nicht so etwas ähnliches mit seinem Einstein? Ich trau mich nicht ihn zu fragen.
Aber es ist ein Unterschied, ob die Zeitversetzung in der Kulturform von vornherein so vorgesehen war, wie beim Schreiben und Lesen, oder eigentlich von der Gleichzeitigkeit lebt, als Gemeinschaft stiftendes Moment, im Konzert oder Kinosaal. Gestreamt wird alles auch ein bisschen egal.
Anita hat Dr. Heßler gerufen, ein Kind hat steigendes Fieber. Wir sollen weiter beobachten. Dann saß er noch mit uns im Bereitschaftszimmer.
„Ich kann heute irgendwie nicht zur Ruhe kommen“, sagte er. „Wegen dem Buch?“, fragte ich.
„Welches Buch?“, wollte Schwester Anita wissen, also erzählte ich ihr kurz, wo es hergekommen war.
„Masernpartys und solchen Sachen?“, vergewisserte sie sich, und Heßler nickte. „Weil Kinderkrankheiten dransteht, wird es für harmlos gehalten.
„Sowas sagt nur jemand, der sich der Fragilität der menschlichen Gesundheit nicht bewusst ist“, sagte er müde. „Aber wehe sie selbst oder ihre Kinder brauchen Mal Hilfe, dann ist das Mimimi plötzlich groß.“