„Jetzt profitieren wieder nur wenige davon. Die alten Player haben auch auf dem neuen Spielplatz das meiste Gewicht, und es sind ein paar neue hinzu gekommen. Die teilen den Markt unter sich auf, und können eingreifen, manipulieren.“
„Sollen etwa alle alles schreiben dürfen?“
„Ja. Tun sie leider auch. Aber die Empörung über Gegenwind ist völlig aus dem Ruder gelaufen. Wenn früher ein Idiot Quatsch gepostet hat, wurde das halt ignoriert oder kurz drüber gelacht. Aber es sprang ihm keine Meute anderer Idioten bei, die sagten seine Meinung – ihre Meinung – würde unterdrückt. Und damit nicht genug: weil der Algorithmus weiß, das große Empörung viel Interaktion zur Folge hat, wird sie allen angezeigt. Die Kontroverse wird belohnt, nicht das Konstruktive.“
Heßler räusperte sich laut aus dem Hintergrund, nachdem ich Anita den Abschnitt vorgelesen hatte. „Stör’ ich?“
„Nein, gar nicht“, sagte ich, aber Schwester Anita war wohl anderer Ansicht, behielt das aber für sich.
„Dieser Mario ist kurz davor zu sagen, dass der Algorithmus im Kern faschistisch ist, und ein Internet, das sich ihm unterwirft ebenso.“ Ich schüttelte den Kopf. Eigentlich steht hier nur noch, dass wir dann gegessen haben, weil die Spaghetti fertig waren.
„Wie, das war alles?“ Schwester Anitas war mächtig enttäuscht. „Du kannst doch nicht hier aufhören, wo es gerade spannend wird! Habt ihr die anderen jetzt getroffen, oder nicht?“
„Schon, aber …“ Ich schüttelte den Kopf, sah zu Heßler und dann wieder zu ihr. „So funktioniert das nicht. „Ich muss es aufschreiben, wie es passiert ist, oder ich vergesse die Hälfte.“
„Gleich ist Übergabe“, jammerte sie. „Sag mir doch einfach die wichtigen Sachen jetzt, und den Rest morgen“, maulte sie.
„Hättest du mich das noch vor einem Jahr gefragt, hätte ich es gemacht“, erklärte ich behutsam. „Aber was ich herausgefunden habe ist, dass die Sachen, die mir zu erst einfallen, nicht unbedingt die sind, an die ich mich erinnern sollte. Das solltest du doch eigentlich sogar besser wissen, als ich.“
Anita schnaubte unzufrieden, nickte dann aber. „Stimmt schon. Vor einem Jahr hättest du überhaupt nicht mit mir über solche Sachen gesprochen.“ Sie wandte sich an Heßler. „Aber mit dir schon, oder?“
Er nickte. „Wahrscheinlich schon, ja.“
„Wenn ich es chronologisch angehe, dann fällt mir mehr wieder ein“, sagte ich entschuldigend. „Darum darf ich mit dem Aufschreiben auch nicht länger warten, versteht ihr? Außerdem erfahrt ihr das gerade alles als Erste, weil … ich weiß auch nicht … weil ihr irgendwie zur Familie gehört?“
„So lange du nicht Tante Anita zu mir sagst, soll es mir recht sein.“ Dr. Heßler sagte nichts, was mich überraschte. Aber er wirkte merkwürdig angefasst, beinahe gerührt.
© Jens Prausnitz 2023