Beim die Beine vertreten gesehen, dass bei Dr. Heßler Licht brannte. Er las anstatt zu schlafen, also klopfte ich. Auf Station war gerade nichts los, und Schwester Heide ging ich noch immer aus dem Weg.
„Darf ich stören?“, fragte ich, nachdem er auf mein Klopfen nicht reagiert hatte.
„Komm rein.“ Er seufzte und legte das Buch zur Seite. „Was ist denn?“
„Ach, ich glaube es ist Zeit für einen neuen Beistelltisch.“ „So schlecht?“
„Reden wir nicht darüber.“
„Sollen wir 8 Minuten und 46 Sekunden schweigen?“
„Ach Gott, nein!“, rief er. „Diese Scheinheiligkeit. Als hätten wir nicht schon viel länger viel lauter geschwiegen. Rassismus hat ja im christlichen Abendland Tradition. Genau wie Antisemitismus. Das sind die christlichen Werte, die wir hier wirklich verteidigen.“
„Du bist zu hart“, sagte ich beschwichtigend.
„Zu hart?“ Heßler schüttelte den Kopf. „Wir würden doch heute Jesus an der türkisch-griechischen Grenze verhungern lassen.“
„Was sollen wir denn dann tun?“
„Was weiß ich, mehr Rotes Kreuz wagen vielleicht? Rotes Kreuz statt Kreuzzüge oder deren heutige Variante mit anderen Mitteln: Kreuzfahrten – An deutschen Touristen soll die Welt verwesen.“
Ich musste lachen. „Sieh an, wer heute als Poet unterwegs ist.“
„Ist doch wahr!“, fuhr er fort. „Unsere Rassisten müssten mal weniger am Hotelpool mit Ihresgleichen abhängen, wo sie sich in der Sonne volllaufen lassen. Die müssten mal wirklich rein in dieses Ausland, raus aus der Postkartenidylle. Das ist sonst nur die Fortführung des Kolonialismus mit Reiseveranstaltern.“ Er nahm seine Brille ab und legte sie auf das Buch. „Außerdem haben wir eine historische Verantwortung für Klimawandel. Allein durch die Industrialisierung in Europa haben wir schon über 100 Jahre Vorsprung gegenüber dem globalen Süden. Möglich gemacht durch unsere Kolonien, Raub von Rohstoffen und Menschen. Kurz: Ausbeutung des Planeten.“
„So habe ich das noch gar nicht gesehen.“
„Ändert aber nichts an den Tatsachen. Aber dann hinstellen und sagen: Jetzt kommt doch mal zurecht und vor allem: bleibt wo ihr seid.“
„Woran liegt das?“