Walentyna hat mir Einkäufe vorbei gebracht, sie an der Tür abgestellt und geklopft. Durch den Spalt haben wir uns angesehen und ein paar Worte gewechselt, es hat mir das Herz zerrissen, und ihr glaube ihr auch. Wir haben beide versucht uns nichts anmerken zu lassen, aber dazu kennen wir einander schon zu gut.
Jetzt zu Hause sein zu müssen ist noch schlimmer, als im März, dabei ist die Situation im Grunde identisch. Damals wie heute kann jeder, dem man begegnet eine Virenschleuder sein. Aber es fühlt sich so an, als hätte ich diesmal den Kürzeren gezogen.
Wenn früher die Schule anrief, ob ich denn wirklich krank sei, platzte Mama hin und wieder der Kragen.
„Ja, Johann ist wirklich krank, Herr Goldhammer“, sagte sie so ruhig, wie sie konnte. „Krank geht man nicht in die Schule, oder zur Arbeit. Damit man keine anderen ansteckt, sie verstehen? Oder würden sie wollen, dass ich krank zur Arbeit gehe und im Heim jemanden anstecke? Zum Beispiel ihre Frau Mutter, die sie übrigens mal wieder besuchen könnten. Guten Tag!“ Und dann knallte sie den Hörer auf die Gabel, dass die Glocke im Telefon nachklang.
Sie hat mir kandierten Ingwer gekauft! Woher wusste sie denn, dass ich den mag? Wobei, da war auch sonst gefühlt mehr gesundes dabei, als ich das ganze letzte Jahr über gekauft habe. Alles von Natur aus antibakterielle, Natron und Zitrone zum abwechselnd Gurgeln, Honig, frisches Obst und Gemüse. Ein paar der Sachen, um die ich sie gebeten habe waren wohl „ausverkauft“, aber ich nehme diesen sanften Stups in Richtung Vorsorge dankend an und tue einfach so, als gäbe es da etwas in mir zu bekämpfen.
Was ich mir wünschen würde, nicht für mich, aber unser Land, wäre ein gesellschaftlicher Neuanfang. Gesamtdeutsch. Eine Bestandsaufnahme, in der Auschwitz, Beethoven und Goethe Platz haben müssen, auch wenn das kaum auszuhalten ist. Eine neue Hymne, eine neue Verfassung, die für ein Deutsches Volk geschrieben wird, das noch gar nicht geboren ist. Unser Grundgesetz war ein Versprechen für uns, nicht für die damalige Zeit. Das war eine Utopie, verteidigt und vereidigt. Jetzt steht es immer mehr im Weg, gerade jenen, die es nicht einmal gelesen haben. Ja, es sollte geändert werden, aber nicht deswegen, weil es einigen nicht in den Kram passt. Es hat ein Wurf in die Zukunft zu sein, ein Versprechen, das wir selbst gar nicht mehr einlösen können, aber die ungefähre Richtung könnten wir wenigstens einschlagen.
© Jens Prausnitz 2023