03.07.20

Auf der Arbeit sah ich mir heute auf YouTube Ausschnitte aus Club der toten Dichter an, und da waren noch mehr Parallelen. Hier wie da Gedichte, die auffliegenden Vögel, oder die Fotografien der inzwischen verstorbenen Vorgänger an der Wand … bis hin zu den Selbstmorden. Und natürlich die Zeitlupe. Oh, dieses Wort. Zeit Lupe. Da ist es wieder, das Nebeneinander von zwei Zeiten. Im Film funktioniert es. Wenn in Picknick die Mädels in Zeitlupe weiter nach oben steigen, und sich nicht nach Edith umdrehen, die dort noch in der Gegenwart sitzt, während sie schon in einer anderen Zeit sind. Dann kommt ihr Schrei. Und im Club ist es der verlangsamte Schrei des Vaters, der einen in die Knochen fährt. Die Filme verhalten sich wirklich wie Spiegel zueinander: hier die Männer, dort die Frauen.

Schwester Heide faselte etwas von Schlafschafen, und meine damit nicht Schäfchen zählen, weil einer unserer kleinen Patienten nicht einschlafen konnte, sondern Maßnahmenbefürworter.
„Die sind doch gerade gelockert worden“, meinte ich.
„Gelockert, ja, aber nicht abgeschafft“, erklärte sie die bekannten Tatsachen, um von dort ausgehend zunehmend wirres Zeug zu monologisieren.
Ich wollte mich nicht mir ihr in die Wolle kriegen, also schwieg ich. Aber das wird immer schwieriger. Wenn ich ihr noch länger zuhöre, dann befürworte ich selber den großen Austausch, vorausgesetzt es sind diese durchgebrannten Hohlbirnen, die dann durch große Leuchten ersetzt werden.
Mir ist, als wären wir auf unterschiedlichen Kontinentalplatten, und weil es so langsam geschieht, bemerken wir nicht, wie wir voneinander weg driften. Wie die Erdbeben in Aachen, die meßbar sind, und wir Menschen nicht spüren können, dafür aber das verängstigte Tier in uns. Wir sind wie der Eisbär, jeder sitzt auf seiner Eisscholle, die unter unseren Pfoten wegschmilzt, und um uns herum nur ein Ozean aus Desinformation und Lügen.
Das sind nicht Denkfaule, sondern Denkfäule ist das, was sie haben.
Es wird von Freiheit geredet, aber was sie wirklich meinen ist Straffreiheit, während man sich seinen Mitmenschen gegenüber unverantwortlich und egoistisch verhält. Eine verinnerlichte Straffreiheit, der jedes Schuldbewusstsein abhanden gekommen ist. Schuld sind immer nur die anderen. An allem. Das ist natürlich Quatsch, aber halt verdammt bequem.
Freiheit. Nicht mal Orwell konnte ahnen, dass heute alle freiwillig ein Überwachungsgerät mit sich herum tragen würden. Selbst für uns Kinder der 80er Jahre war das noch unvorstellbar. Das einzige von heute, was wir damals schon intuitiv verstanden hätten, ist die Funkzellenabfrage. Nur dass wir dabei an zwei Rentner am Fenster gedacht hätten, die über eine Festnetzleitung miteinander gesprochen hätten: „Siehst du den Jugendlichen schon?“ – „Ja, er kommt hier gerade um die Ecke.“ Lückenloser ging’s nicht. Aber heute geschieht dies alles unsichtbar. Auch die Worte verschleiern mehr, als das man sich darunter vorstellen könnte: Metadaten. Was soll das sein? Ein Zollstock? Nein, ein lückenloses Protokoll davon wann du wo warst und was du dort womit bezahlt hast. Bei der Volkszählungsdebatte damals wollte nicht mal jemand zugeben, wo er wohnt! Heute klicken die gleichen Leute das Kästchen mit den 5 EUR Rabatt an, ohne zu begreifen, dass sie dann von 1000 anderen Unternehmen Werbung bekommen werden. Andererseits ist es genau diese Ahnungslosigkeit, die jetzt die Familie wieder zusammenführt. Also vielleicht.

Und was ist das jetzt für eine Überraschung in meiner Wohnung? So lange es nur kein Hamster ist, der meinetwegen gerade verhungert, ist mir alles recht.

© Jens Prausnitz 2023

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