02.06.20

Ich verzog mich und bereitete Infusionen im Behandlungszimmer vor. Nach einer Weile gesellte sich Dr. Heßler zu mir. Wenigstens ein Lichtblick in dieser Nachtschicht.
„Ich wollte mich übrigens noch bei dir bedanken.“
„Du? Bei mir?“ Beinahe hätte ich mit der Kanüle die Membran verfehlt und meinen Finger angepikst.
„Nach deinem Rant im Park habe ich über Kinder nachgedacht. So lange wie ewig nicht.“
„Als Kinderarzt?“
„Hinter dem Otoskop ist es oft am dunkelsten. Aber alles, was du gesagt hast stimmt. Am schlimmsten ist es mit der Schule. Wir schicken unsere Kinder hin, weil wir es ja auch durchmachen mussten. ‚Damit ihr mal seht, wie das ist!‘ Schrecklich, oder? Anstatt zu sagen: ‚Ihr sollt nicht durchmachen müssen, was ich erlebt habe.‘“
„Du hast unsere Kinder gesagt“, stellte ich mit Genugtuung fest.
„Tatsächlich? Aber es stimmt: Ich hätte es nicht ertragen meine eigenen Kinder durch diese Hölle gehen zu lassen. Jahrelang dasitzen zu müssen, und von falschen Autoritäten Dinge erzählt zu bekommen, die längst überholt oder falsch sind, und in den meisten Fällen obendrein komplett nutzlos.“
„Also ich hatte auch ein paar gute Lehrer“, hörte ich mich zu meiner eigenen Verblüffung sagen.
„Gut für dich. Ich nicht. Wenn ich nur einen einzigen guten gehabt hätte, wäre ich vielleicht dem Gedanken eigene Kinder in die Welt zu setzten unvoreingenommener gegenüber gestanden. Jetzt bin ich eh zu alt.“
„Nun ja, wenn man sich so manche Rockstars anschaut, oder Schauspieler …“
„Ich wollte eigentlich dabei zusehen wie sie erwachsen werden, und nicht den Löffel abgeben, wenn sie in die Kita kommen, für die kein Personal da ist …“
Ich unterbrach ihn und brach einer Ampule den Hals. „Wie sollte sie denn aussehen, deiner Meinung nach, die Schule?“
„Na dialogisch, so wie bei uns beiden gerade. Weiß man eigentlich schon seit Sokrates und Plato, aber die Hebammenkunst hat es noch nicht in deutsche Lehrpläne geschafft, oder?“
„Äh, eher nicht, nein? Also ist bei mir auch schon eine Weile her. Hast du schon viele Babys auf die Welt geholt?“, fragte ich, kurz davor den Faden zu verlieren.
„Im sokratischen Sinne oder meinst du aus Fleisch und Blut?“
„Mehr oder weniger.“
„Ja.“
„Was?“
„Na, mehr oder weniger. Das ist eine gute Antwort“, lachte er. „Okay, ich lege mich dann mal auf’s Ohr.“
„Mit etwas Glück siehst du mich erst zum Frühstückskaffee wieder.“
„Verschrei’s nicht“, sagte er und trollte sich.
Mist, dabei hätte ich ihn gerne zu Schwester Heide gefragt, vielleicht weiß er ja Rat.

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