01.08.20

„Nicht mal mein Haarwirbel ist dir aufgefallen? Also der, den wir alle haben? Wem willst du das erzählen?“
„Na dir!“, rief ich. „Angeblich werden ja nicht nur Haarwirbel,
sondern auch Traumata von Generation zu Generation weitergegeben.“
„Ach, nicht bei uns. Ich hatte für sowas gar keine Zeit und immer zu viel um die Ohren.“
„Die wiederum hätte ich lieber von dir gehabt“, sagte ich und seufzte.
„Aber da ist schon was dran“, sagte Mutter. „Eigentlich sollten wir uns allen Kindern gegenüber so verhalten, als seien sie unsere eigenen.“
„Bloß nicht“, stöhnte ich. „Die meisten gehen ziemlich scheiße mit ihren Kindern um.“
„Du weißt, dass ich das nicht meine. Nicht belehrend, sondern vorleben, mit gutem Beispiel voran gehen …“
Ich wollte schon scherzhaft etwas darauf erwidern, blieb stattdessen aber stehen und sagte: „Das bist du wirklich. Bis heute.“ Es war schön, wie sie mich ansah, dann kurz darauf lächelte, nach oben blickte und sich die Sonne ins Gesicht scheinen ließ, ehe sie mir den Arm drückte und wir unseren Weg fortsetzen.

An der Bushaltestelle, zu der ich sie begleitete meinte ich noch, dass die Demo in Berlin dann doch eigentlich eine gute Gelegenheit sei, die offenen Fahndungen nach den über 300 untergetauchten Rechtsradikalen mal mit den Demonstranten abzugleichen. Mutter meinte, von denen müssten eigentlich überall Bingo-Karten aushängen, wie Ende der 70er von den RAF-Terroristen.
Meine ganze Welt hat sich in weniger als einem Jahr verändert. Also eigentlich gar nicht die Welt, sondern ich mich. Die Welt ist noch immer die Gleiche. Nur sehe ich sie jetzt, wie sie immer war, aber als Teil von ihr. Das fühlt sich gut an.
Während ich noch vor der Arbeit Wäsche faltete, hörte ich Radio und von der Demo in Berlin gegen die Maßnahmen, zu der Clara wohl gehen wollte. Die Teilnehmer haben offenbar kein Problem mit antisemitischen Narrativen, oder der 1:1 Übernahme des Slogans „Tag der Freiheit“. Als sei das Tragen einer Maske auch nur entfernt mit dem eines Davidsterns in Nazideutschland vergleichbar. Es ist so widerlich, dass man das Leuten tatsächlich wieder erklären muss. Wo waren die denn alle in der Schule, verdammt noch mal? Wähnen sich hier in einer Diktatur und brüllen ohne Konsequenzen auf der Straße herum, dass sie gar nichts mehr sagen dürften.
In Israel fürchten sich derweil Demonstranten davor, dass ihre rechte Regierung in eine Diktatur abrutscht, fordern deren Rücktritt und werden dafür von ihr beschimpft. Bei uns schimpfen die Spinner in alle Himmelsrichtungen, ein Kompasspropeller, Orientierungslosigkeit als Antrieb.

© Jens Prausnitz 2023

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